Woche junger Schauspielerinnen und Schauspieler

Woyzeck 4.0 im Bensheimer Parktheater

Das Sozialdrama wird zum Spielmaterial für ein Ensemble, das den Stoff aus einer gegenwärtigen Perspektive forschend umkreist und neu denkt.

Von 
Thomas Tritsch
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Die fünfte und letzte Aufführung im Rahmen der Woche junger Schauspieler im Bensheimer Parktheater war „(Making) Woyzeck“ vom Schauspiel Essen. © Thomas Neu

Bensheim. Der Hauptmann zückt ein kleines gelbes Reclamheftchen und liest vor, wie der arme Soldat Woyzeck ausgenutzt, gepeinigt und betrogen wird. Schon zu Beginn dieses außergewöhnlichen Theaterabends wird Georg Büchners Fragment demonstrativ auf Distanz gehalten. Das Sozialdrama wird zum Spielmaterial für ein Ensemble, das den Stoff aus einer gegenwärtigen Perspektive forschend umkreist und neu denkt.

Die Tragödie findet nicht statt. Stattdessen wird das Opfer zum Rächer seines eigenen Schicksals. Der deutsch-türkische Regisseur und Performer Caner Akdeniz setzt dem Original eine spannende Alternative entgegen, die Puristen nicht gefallen dürfte: Der geschundene Proletarier bricht in einem autarken Akt der Auflehnung aus seiner literarisch zugeteilten Defensive aus, verschont die geliebte Marie und killt seine Peiniger in einer Orgie aus Wut, Blut und jeder Menge Rasierschaum.

Das fünfte und letzte Stück im Rahmen der Woche junger Schauspielerinnen und Schauspieler war eine Frechheit, eine Provokation – und eine Wucht in jeder Hinsicht. „(Making) Woyzeck“ vom Schauspiel Essen ist nicht nur ein Bruch mit der Essenz der Vorlage, sondern auch eine Herausforderung für das Publikum, das auf der Bühne des Parktheaters rund um eine Arena platziert und unmittelbar ins Geschehen einbezogen ist.

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Die 80 Zuschauer werden direkt angesprochen und – in der Wirtshausszene – sogar zum gemeinsamen Tanz aufgefordert. Kein Vorhang, keine vierte Wand, keinerlei Barrieren. Wer Pech hat, wird von Eren Kavukoglu in der Titelrolle angeflirtet und umgarnt. Wer mutig ist, lässt sich darauf ein. Das ist Mitmachtheater für ein eher junges Publikum mit Lust am Grellen und Lauten, gewiss. Aber auch ein packendes Experiment und ein beherztes Auflehnen gegen die Dominanz eines unantastbaren Klassikers.

Auch die Schauspielerinnen und Schauspieler haben ihre festen Plätze in den Zuschauerreihen. Sie sitzen auf alten Röhrenfernsehern und beobachten das Geschehen von außen. Kein Guckkastentheater, sondern eine hoch dynamische und performative Spielsituation auf kleinem Raum, in dem die Schauspieler die Reaktionen des Publikums direkt aufnehmen können. Die Darsteller agieren auf einem beleuchteten und mit Videosequenzen bespielten Boden, die Kostüme (Emir Medic) rangieren zwischen pseudomilitaristisch und Fetisch-Look. Der zynische Hauptmann, gespenstisch fragil dargestellt von Stefan Diekmann, trägt Lederanzug, der borniert-empathiefreie Doktor (Sven Seeburg), der wie ein medizinischer Beipackzettel faselt, schwitzt in langer Schürze.

Ein wildes Testosteron-Monster, hart an der Grenze zur Parodie

Dazwischen rangelt ein viriler Woyzeck mit seiner Marie (Sümeyra Yilmaz), die mit dem bärenstarken Tambourmajor schäkert, der von Mansur Ajang als wildes Testosteron-Monster im schwarzen Overall hart an der Grenze zur Parodie angelegt wird. Was kein Makel ist, denn auch bei Büchner sind die äußeren Figuren grobkörnig und holzschnittartig gezeichnet: groteske Menschenbilder ohne psychologische Tiefe oder reflexive Ambition.

Wenngleich sie nicht im Mittelpunkt steht und über weitere Passagen unbeteiligt bleibt, bestimmt die Marie von Sümeyra Yilmaz in beinahe jedem Moment die Handlung. Die 29-Jährige zeigt eine starke Bühnenpräsenz, viel Spiellust und physische Energie. Der verzweifelte körperliche Liebeskampf mit Eren Kavukoglu gehört zu den intensivsten Augenblicken der Inszenierung, die von Lichtblitzen und wummernden Bass-Sounds flankiert wird.

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Der junge Regisseur, der bei der Eröffnung des Bensheimer Theaterfestivals über seine eigene Biografie gesagt hat, dass er „eine Reise von der Arbeiter- in die Akademikerschicht“ hinter sich und dabei auch Narben davongetragen habe, hat sich dem Büchner ohne Scheuklappen genähert. Die Wut der Sprache bleibt, doch mit der Lethargie des depressiven Losers konnte und wolle sich Caner Akdeniz nicht arrangieren.

Sein Woyzeck hat keine Lust mehr, nur noch seinen Hauptmann zu scheren, als wissenschaftliches Objekt Erbsen zu fressen und dabei zuzuschauen, wie seine Freundin einen anderen ran lässt. Sein Soldat wird selbst aktiv und verlässt seine Rolle in einem revolutionären Ausbruch gegen jede Art von Unterdrückung. Er beweist street credibility und pfeift auf Klassenzugehörigkeit. Der getretene Hund wird zum bissigen Wolf. Ein Woyzeck mit einer neuen Identität.

In der subversiven Inszenierung wird Woyzeck zum Kämpfer

Die subversive Essener Inszenierung schlägt sich auf die Seite des Underdogs. Woyzeck wird zum Kämpfer wie Rocky Balboa, der ebenso zitiert wird wie viele andere Hollywood-Helden. Die soziale Dimension des Stücks, die Schieflage der gesellschaftlichen Verhältnisse und die seelische Tiefe der existenziell geforderten Hauptfiguren rücken in den Hintergrund. Die Kräfte, die Woyzeck zum Mord an Marie treiben, bleiben vage. Die Rolle von Woyzecks Kamerad Andres ist komplett gestrichen, die mentalen Visionen des verwirrten Subjekts werden lediglich angedeutet.

Stattdessen kehrt Woyzeck den Spieß um. Mit dem Rasiermesser tötet er Hauptmann, Doktor und Tambourmajor. Dann bringt sich auch Marie symbolisch um. Der literarische Täter ist auf einmal schuldlos. Danach folgt eine längere, szenische Persiflage auf „Harry Potter“, „Titanic“, „König der Löwen“ und „Spiel mir das Lied vom Tod“. Filmzitate, in denen es um Liebe, Sterben und Heldentum geht. Jetzt ist Büchner völlig außen vor. Caner Akdeniz zerfetzt das Original und serviert dem Publikum einen Schauspiel-Workshop, szenisches Spiel für Erstsemester.

Trotz dieser bisweilen sinn- und orientierungslos wirkenden Passage bleibt dieses „Making of“ nach 90 kurzweiligen Minuten als mutige, amüsante, unberechenbare und aufmüpfige Variante eines Heiligtums des deutschen Naturalismus im Kopf. Langer Applaus im Parktheater für eine bemerkenswerte Inszenierung und eine durchweg starke Ensembleleistung.

Freier Autor

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