Bensheim. Die schlechte Nachricht kam gleich nach Hans Albers’ standesgemäßem Intro. Es war am Donnerstag nicht „auf der Reeperbahn nachts um halb eins“, sondern um halb neun in Bensheim, als Gitarrist Krissy Matthews mitteilte, dass Sänger Gert Lange nur wenige Stunden zuvor in die Klinik musste. Ein Notfall.
Mehrmals schickte das Rex in den folgenden zwei Stunden Genesungsgrüße in das Krankenhaus im hohen Norden. Das Publikum im Musiktheater erlebte ein Konzert ohne den Kopf und Gründer der Formation, die in den vergangenen Jahren viele personelle Verluste und Wechsel miterlebt hat. Zuletzt verstarb im März 2020 der grandiose Drummer Hans Wallbaum.
Auch Bassist Michael Becker ist bei der aktuellen Tour wieder nicht dabei. Das wurde insbesondere in der ersten Hälfte mehr als deutlich: Mit dem starken Bassmann Reggie Worthy, den man in Deutschland als Tieftöner von Stoppok kennt, und Schlagzeuger Eddie Filipp war die Band als schlankes Trio zwar solide besetzt, doch den gewohnt rotzigen Drive und energetischen Druck mit zwei dialogisch verbandelten E-Gitarren hat man in der ersten halben Stunde durchaus vermisst.
Stärken liegen in den Fingern
Auch bei Stücken wie dem melancholischen „Grateful“ aus Matthews aktueller, sehr biografischen CD „Pizza Man Blues“ und dem zackigen „It Ain’t Worthy“ hat sich gezeigt, dass die Stärken des 29-jährigen Saitenkünstlers vor allem in den Fingern und weniger in der Stimme liegen. Sein Handwerk allerdings ist erste Sahne, klingt mal frisch und kraftvoll, dann wieder wuchtig und kantig.
Im Rex hat der britisch-norwegische Musiker mit blühenden Soli und messerscharfen Bluessounds die rund 200 Gäste beeindruckt. Fazit: Als Sparringspartner von Gert Lange ideal, als stellvertretender Vorsitzender in Ordnung. Dass die Musiker das Bensheimer Konzert trotz Hiobsbotschaft nicht abgesagt haben, ist auf jeden Fall lobenswert.
Erster Höhepunkt des Abends war Reggie Worthys Version vom alten Ike- und Tina-Turner-Song „Nutbush City Limits“ mit dreckigen Riffs, energiegeladenen Vocals und einem souverän getakteten Spiel des Braunschweiger Drummers Filipp, der schon mehrfach mit den HBB-Gefährten Alex Conti und Clem Clempson (Colosseum) zusammengearbeitet hat. Ein Klassiker, der in dieser Minimalbesetzung ebenso überzeugend klang wie Jimi Hendrix’ „Foxy Lady“ mit einem mitreißenden Bass-Gitarre-Wettstreit an der Bühnenfront, bei dem auch fleißig aus „Whole Lotta Love“ von Led Zeppelin zitiert wurde. Kurz: die Band war warmgespielt – und ging in die Pause.
Danach spürte man in der alten Güterhalle auch ganz hinten die flirrende Präsenz einer Legende: Mit seinen vor drei Wochen gefeierten 81 Jahren ist Chris Farlowe natürlich auch nicht mehr der Allerfrischeste, doch was der britische Rhythm & Blues-Spezialist (Thunderbirds, Colosseum) live noch immer drauf hat, ist mehr als beachtlich. Und auf einmal offenbarte sich, was man in der ersten Halbzeit bisweilen vermisst hatte. „Don’t Need No Doctor“ singt er mit einem Augenzwinkern, das die eigene Reife ironisch kommentiert, um sofort danach noch einmal eine kollektive „gute Besserung“ nach Hamburg anzustacheln.
Mit frechem Humor, sympathischer Publikumsnähe und nach wie vor berührender Stimme hat Farlowe das Rex dann endgültig erobert. Der „Stormy Monday Blues“ von Colosseum geriet zu einer musikalisch-emotionalen Kernschmelze, wie man sie live nicht alle Tage miterleben darf: ein vibrierender Blues ohne Schnörkel und Glitter, heulend und seufzend, kraftvoll und kämpferisch. Ein wahrhaft stürmischer Montag mitten an einem herbstlich kühlen Donnerstag in Bensheim. Und mit einem Chris Farlowe in seinem Element. Er zeigt Krissy Matthews auf der Uhr an, dass dessen Solo nun langsam zu Ende gehen sollte und beklagt in typischer Blues-Manier die existenziellen Lebensleiden des Daseins. Unter anderem die hohen Mieten in Bensheim, die er sich als abgebrannter Musiker gar nicht mehr leisten könnte.
Vier Minuten Schweigen
Doch das Mitleid hielt sich in Grenzen. Das stimmliche Spektrum des Sängers kaum. Farlowe peitscht seine Range bis an die maximalen Grenzwerte und zeigt bei der Zugabe, dass seine Variante des Stones-Songs „Out Of Time“ seit den 60er Jahren nichts von ihrem Zauber verloren hat. Mick Jagger, drei Jahre jünger, hatte die kürzere Version im April 1966 eigens für Farlowe produziert und sang selbst im Chor mit. Im Rex übernahmen die Gäste Jaggers Part.
Und wer würde es schaffen, 200 Leute vier Minuten lang zum Schweigen zu bringen? Chris Farlowe mit „Rock It“ von George Jones als A-capella-Blues mit Gänsehautgarantie. Eine Sternstunde im Rex. Und zuvor verriet der Sänger auch, warum sich die anderen drei Kollegen für dieses Solo tatsächlich von der Bühne verzogen hatten: „Die müssen mal aufs Klo. Vergrößerte Prostata. Meine Prostata ist exzellent!“
Ohne Harndrang, aber mit einem kerngesunden „All Or Nothing“ von Steve Marriott (Small Faces) ging es flüssig Richtung Finale. Und Chris Farlowe kündigte in Bensheim schon mal die x-te Wiederauferstehung von Colosseum an, zu der er ab 1970 kurz vor deren erster Auflösung dazu gestoßen war.
Gegründet von Schlagzeuger Jon Hiseman und dem Saxophonisten Dick Heckstall-Smith, die mittlerweile beide verstorben sind und beide auch mit der Hamburg Blues Band eng verbandelt waren. Heckstall-Smith war 1982 neben Gert Lange Gründungsmitglied der Nordlichter und deren prominente Brücke zur britischen Bluesszene. Die Gastspiele mit ihm im alten Lorscher Rex vor 20 Jahren sind legendär. Eine Colosseum-Tour 2022 ist fest terminiert.
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