Bensheim. Der Vorhang ist schon offen, es steht nur ein Hocker in der Mitte der sonst schwarzen Bühne. Ein Mann sitzt darauf und blickt zu Boden, während sich das Publikum im Saal versammelt und langsam eine gebannte Stille eintritt. Die ganze Aufmerksamkeit ist nun auf dem Akteur im weißen Hemd, der im Spotlight sitzt und immer wieder einen Ball auf den Boden wirft.
Allmählich beginnt er einzelne Wortfetzen zu murmeln. Man könnte meinen, er hat einen zerrissenen Brief gefunden und versucht nun aus den einzelnen Schnipseln ein Ganzes zusammenzusetzen. Aus Worten werden Sätze, erst langsam und leise, dann immer schneller, lauter und rhythmischer, bis sich schließlich ein Wortgewitter über die Zuschauer ergießt.
Es dauert kurz, bis man sich auf die außergewöhnliche Spielweise und die Sprache einlassen kann, aber dann wird man schnell von der intensiven Mimik und Gestik von Jonas Dumke gefesselt und kann die Texte Kleists förmlich sehen.
Fast alles Gesagte stammt aus den Briefen Kleists und die Zuschauer erleben auf der Bühne eine Vielzahl seiner Gefühle in unterschiedlichen Lebenssituationen. Es sind alte Texte mit modernen Themen: Er beginnt langsam, sanft, melodisch. Mit Worten versucht er die angebetete Wilhelmine zu umgarnen, während er direkt zum Publikum spricht, sich immer mehr im Inhalt verlierend, immer schneller und lauter werdend, bis er schließlich die Worte herausschreit, sie möge ihn doch lieben.
Man könnte meinen, die Bühne sei das von ihm erwähnte Zimmer, in das er sich einschließen will, bis er weiß, was sein „Lebensplan“ ist. Dazwischen Textpassagen mit Anekdoten aus dem letzten preußischen Krieg. Die sieben verlorenen Jahre in der Armee bedauert er. Strammstehen und Salutieren ist nichts für einen „freien, denkenden Mensch“.
Dann setzt er sich und dem Publikum eine grüne Brille auf. Es ist das Vor-Augen-Halten, wie sich Ansichten entsprechend der Wahrnehmung verändern. Woran soll man erkennen, ob nicht bereits die gesamte Wahrnehmung unbewusst verändert wurde?
Immer auf der Suche nach seinem Lebensplan treibt es ihn auf Reisen; immer schneller wechseln die Orte, immer ruheloser wird er.
In einem spektakulären Lichtgewitter bereitet er seinen Abgang vor, indem er feierlich Hemd und Jackett anzieht, während sich beim Zuschauer, auch durch den dramatischen Sound, der Puls erhöht. Dann kommt er wieder zur Ruhe und trägt seinen Abschiedsbrief vor. Seine zunehmende innere Zerrissenheit führt ihn schließlich zum Selbstmord. Der Untergang wird in Zeitlupe zelebriert, bis er letztendlich am Boden liegt. War es das? Gespannte Stille; das Publikum ist sich unsicher. Nein, es kommt noch eine kurze, neutrale Informationsverlesung über die Todesumstände.
Jonas Dumke hat ein gewaltiges, mitreißendes Stück auf die Bühne gebracht, das eine Hommage an Kleists Sprache ist. Mit seinen unglaublichen schauspielerischen Fähigkeiten macht er die Texte lebendig und kann ohne Probleme 60 Minuten allein füllen, so dass man ihn auch gerne noch länger auf der Bühne gesehen hätte. Eine faszinierende Art und Weise der Darstellung: der unglaubliche Redeschwall, die sprachliche Gewandtheit, die Ausdrucksstärke und Dramaturgie machen diesen Besuch zu einem unvergesslichen Theatererlebnis.
Jonas Dumke hat es geschafft, mit einem schlichten Bühnenbild und bewusst eingesetzten Licht- und Soundeffekten das Publikum sein authentisches Schauspiel umso intensiver und greifbarer wahrnehmen zu lassen, also „mit geringen Kräften große Wirkungen hervorzubringen“. Das kann Theater!
Mareike Albrechtist Schülerin des AKG und nimmt am Schulprojekt „Theaterkritik“ teil, von dem das Festival auch in diesem Jahr wieder begleitet wird.
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