Bensheim. Die Beziehung von Auge und Hirn ist von Natur aus problematisch. Die Interaktion von visueller Wahrnehmung und mentaler Verarbeitung wird von einem individuellen Erfahrungsschatz beeinflusst, der das Häufige gern als vermeintlichen Standard verallgemeinert.
Der Spielraum zwischen sinnlicher Wahrnehmung und intellektueller Rezeption ist ein Reich der ständigen Deutungen und Abwägungen – besonders in der Kunst. Und Jochen Mühlenbrink ist ein Künstler, der dem Betrachter in diesem hoch dynamischen Spannungsfeld keine Ruhe lässt. Jeder Blickwinkel wird in Frage gestellt. Jeder Dialog mit dem Motiv ist ein Tanz über kognitive Tretminen und ein Duell mit antrainierten Automatismen. Ausgang offen.
Wie runzlige Paketbänder
Die junge Kunsthistorikerin Anna Raab hatte Recht, wenn sie die Gäste der Ausstellung freundlich wie bestimmt darauf hinwies, die Kunstwerke bitte nicht zu berühren. Denn man will sie anfassen, diese runzligen Paketbänder und angelaufenen Spiegel, diese schlierigen Fenster und welligen Polaroids, die sich vor einem als dreidimensionale Realität aufspielen und doch „nur“ brillante Malerei sind.
Wo René Magritte 1929 in seinem „Verrat der Bilder“ noch „Ceci n’est pas une pipe“ als innovativen Wahrnehmungsbefehl ausgegeben und das Abbild vom Abgebildeten – eine Pfeife – distanziert hat, lässt der 1980 in Freiburg geborene Mühlenbrink den Betrachter in visueller Unsicherheit darben und deuten.
Mehr noch: Er treibt sein Verwirrspiel auf die Spitze, indem er mit dem Finger transparente Linien auf scheinbar beschlagene Scheiben zeichnet, die den Blick hinter den Kondensnebel auf eine vermeintliche Wirklichkeit fragmentarisch freigeben – wenn da nur ein veritabler Durchblick wäre.
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Das ist frech und amüsant, virtuos und unverschämt seinen wehrlosen Artgenossen gegenüber. Die Sonderführung durch die Werkschau „J’M donc je suis“ mit Anna Raab hat den Teilnehmern am Sonntag neue Perspektiven eröffnet, ohne sie mit einer visuellen Handlungsanleitung in ihrer jeweils eigenen Wahrnehmung zu beschneiden. Vier Wochen nach der Eröffnung konnte man sich den Werken des Künstlers in Begleitung kompetenter Anmerkungen widmen und dabei ein paar frische Erkenntnisse mitnehmen.
Bei den angesprochenen „Window Paintings“ geht es aber nicht nur ums Wechselspiel zwischen Verbergen und Enthüllen: Hier begegnet traditionelle Malerei (die Durchblicke) auf künstlich geschaffene Unschärfe, die linear aufgerissen wird und eine potenziell reale Szenerie dahinter freigibt. Und man wird sich gewiss, wie klug der Künstler mit den Grundstrukturen des kollektiven Unbewusstseins spielt und einem buchstäblich den Kopf verdreht. Die scheinbar mit dem Finger gezogenen Wellenlinien werden so gleichsam zu einem Akt der Kommunikation zwischen zwei Wahrnehmungsebenen.
Was ist real, was ist sichtbar?
In vielen Werken tauchen immer wieder Klebestreifen auf, die als optische Täuschung auf die Leinwand und manchmal auch über das darunterliegende Motiv gemalt sind. Die freien Stellen zwischen den Tapes und die Fingerschlieren geben die Sicht auf etwas frei, das der Künstler selbst in Frage stellt. Was ist real, was ist sichtbar. Was ist überhaupt darstellbar? „Trompe-l’Œil“ nennt die Kunstwelt diese das Auge täuschende Malerei. Denn das alles ist „nur“ gemalt, und zwar äußerst detailreich. Meist mit Öl oder Acryl auf Leinwand, teilweise aber auch auf Metall oder Holz.
Bis zum Maximum treibt Jochen Mühlenbrink die Interaktion mit dem Gegenüber in seinen „Mirror Paintings“: Werk und Betrachter kollidieren unmittelbar in einer Spiegelfläche. Der Mensch wird Teil des Kunstwerks und das Konzept an sich überwindet die inhaltliche Qualität des Werks.
Mit Acryl und Expoxidharz erweckt er den Eindruck einer Klarsichtfolie auf einem Spiegel. Die visuelle Irritation ist auch hier nicht das Mittel, sondern der finale Zweck des Künstlers, der verwirren und täuschen, verstören und faszinieren möchte. Und es gelingt ihm, den Betrachter zu motivieren, sich über sein ganz eigenes Verhältnis zwischen Auge und Hirn Gedanken zu machen im Sinne von: Man soll nicht alles glauben, was man denkt.
Auch die Falten und Knicke auf dem Klebeband sind reine Spielerei – entstanden durch einen dicken pastosen Farbauftrag, der eine Oberflächenstruktur vorgibt, die nicht vorhanden ist. Das Motiv „Studio Window“ ist aber nicht nur malerischer Effekt, sondern betont gleichermaßen auch das Irreale im vermeintlich Echten: der seitliche Lichteinfall steht mit der Form des skizzierten Fensters im Widerspruch – die Inszenierung wird deutlich gemacht.
Es sind nicht nur Leinwand und Papier, auf denen er malt: Auch Holz und Bronze treten als Akteure auf und lösen sich aus der Zweidimensionalität heraus. Das Material verkörpert sich selbst und bleibt doch gleichzeitig unsichtbar.
Jochen Mühlenbrink war bis 2007 Meisterschüler von Markus Lüpertz an der Kunstakademie Düsseldorf. Seine Arbeiten wurden zuletzt in Los Angeles, Shanghai und Singapur ausgestellt.
2010 erhielt er den Förderpreis Malerei der Öffentlichen Versicherungen Oldenburg, 2012 den Bergischen Kunstpreis des Kunstmuseums Solingen und der National-Bank Wuppertal. Seine Werke waren bislang in über 50 Ausstellungen zu sehen.
Mühlenbrink lebt und arbeitet in Düsseldorf und Oldenburg. Die Ausstellung ist noch bis zum 11. Juni im Museum Bensheim zu sehen und vereint Arbeiten aus den Jahren 2008 bis 2023.
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