Bensheim. Vor allem die Innenstadt ist noch von den Relikten des späten Mittelalters geprägt und die Führung der Straßen und Gassen verrät die einstige kleinteilige Gliederung, die unter anderem von den ehemaligen Höfen bestimmt wurde. Doch gibt es Partien im Stadtbild, die einen ganz eigenen, andersartigen Charakter haben. Dazu gehört zum Beispiel die schmale Erbacher Straße. In ihren Dimensionen entspricht sie durchaus ihrer Umgebung. Diese jedoch ist von vielen Vor- und Rücksprüngen in den Straßenfronten gekennzeichnet, während das Bild der Erbacher Straße vor allem von der schnurgeraden Anordnung ihrer Südseite bestimmt ist.
Diese Front wirkt inmitten der gewachsenen Stadtstrukturen wie aus einem Guss – und das ist sie im Ursprung auch: Sie entstand erst ab 1808. Drei Jahre zuvor war die Mauer von der Mittelbrücke bis zur Stadtmühle abgebrochen worden, so dass sich südlich der Altstadt neue Bauplätze ergaben. Die Häuser wurden mit einer geschlossenen Front zur neu entstandenen Straße hin gebaut, während auf der Rückseite Gärten und Höfe zum Bach weisend individuellen Umrissen folgten.
Den Auftakt an der Mittelbrücke macht das Haus Hauptstraße 54, das am Ort des abgebrochenen Mittelbrückenturmes errichtet wurde. Wie bei den anderen neuen Häusern in der Erbacher Straße ist das Erdgeschoss massiv gebaut. Der Sturz am Eingang zur Erbacher Straße wird von einer Brezel geziert, und trägt die Jahreszahl 1809. Nicht mehr lesbar sind die in mehreren Quellen angegebenen Initialen „J. W. D“, wohl für Johann Wilhelm Daum, der hier eine Bäckerei betrieb.
Einige Häuser weiter östlich befinden sich die im selben Jahr erbauten Häuser Erbacher Straße 7 bis 13, die alle nicht mit dem Giebel, sondern mit der Traufseite zur Straße ausgerichtet sind. Ein gemeinsames Merkmal sind hier die auch bei weiteren zeitgleichen Bauten in Bensheim beliebten Mansarddächer, bei denen auf ein steiles Unterdach ein flacheres Oberdach gesetzt ist und so größere Nutzflächen im Dach und die Anbringung von Gauben mit Fenstern erlaubt. Die Ladeneinbauten und Schaufenster in der Erbacher Straße stammen aus dem späteren 19. und dem 20. Jahrhundert. Unter anderem betrieben hier von 1913 bis 1921 die Herren Blüm und Krämer einen Textilhandel – den Vorläufer des späteren Kaufhauses Krämer am Marktplatz.
Die Bebauung war vermutlich eine gute Investition. Einer der Bauherren war der Baron François Quirit de Coulaine, der vor den Folgen der Französischen Revolution geflohen war und 1795 in Bensheim eine reiche Witwe heiratete. Doch muss auch das Vermögen des Ehemanns beträchtlich gewesen sein, der hier nicht nur als Bauherr auftrat, sondern auch das stattliche, bis zur Erbacher Straße reichende Haus in der Hauptstraße 50 erwarb, die Neumühle an der Straße nach Schönberg (später Hofgut Falkenhof) sowie Felder und Äcker. Er verschaffte sich offenbar schnell hohes Ansehen in der Stadt und scheint sich auch wohltätig gezeigt zu haben. Nach 1803, als Bensheim dem Großherzogtum Hessen-Darmstadt zugeordnet wurde, brachte de Quirit es zum großherzoglichen Kammerherrn.
Ein französischer Adliger war nicht der einzige Exilfranzose in Bensheim
Das Bensheimer Stadtarchiv verwahrt mehrere Dokumente, die sich auf den Bau des Hauses Erbacher Straße 3 beziehen und von denen Diether Blüm in seinem Buch „Adelsfamilien im alten Bensheim“ berichtet. Daraus ist zu entnehmen, dass der Platz zwischen Stadtmauer und Lauter zunächst für Lohgruben zum Gerben genutzt wurde. Als de Quirit den neu entstandenen Bauplatz erworben hatte, klagte er nämlich diesbezüglich um dessen Räumung.
Der französische Adlige war nicht der einzige Exilfranzose in Bensheim damals. Im Jahr 1792 kam der Herzog Louis Joseph de Condé mit 300 französischen Adligen, die in seinem Heer französischer Revolutionsgegner organisiert waren, nach Bensheim und nahm vorübergehend im Rodensteiner Hof Quartier. Das Corps wurde vom Mainzer Kurfürsten allerdings schon bald wieder zum Abzug gebracht – zum Bedauern der Bensheimer, die den zahlungskräftigen Emigranten gern Pferdefutter, Stroh und Verpflegung verkauft hatten.
Prinzipiell verteilten sich in den 1790er Jahren Emigranten aus allen Ständen der französischen Gesellschaft über ganz Europa. Viele von ihnen sind ebenso wie der Baron de Quirit wieder in die Heimat gegangen, nachdem sich dort die politischen Verhältnisse geändert hatten und Emigranten, die ihren Besitz verloren hatten, zum Beispiel eine Entschädigung aus dem Staatsschatz angeboten wurde.
Ein guter Draht zum Sohn des Großherzogs Ludewig I.
De Quirit jedenfalls verkaufte ab 1824 alle seine Bensheimer Besitzungen, offenbar nach dem Tod der Bensheimer Ehefrau, und zog wieder auf sein Schloss an der Loire, von wo aus er noch in den 1830er Jahren mit dem Hessischen Großherzog Ludwig II. korrespondierte, ihm zum Geburtstag gratulierte und zum Beispiel um eine Anstellung für einen Sohn aus der Ehe mit seiner Bensheimer Ehefrau bat – und übrigens noch immer mit dem Titel eines Kammerherrn unterzeichnete.
Wie beharrlich der Baron an seiner gesellschaftlichen Stellung gearbeitet hatte, zeigen mehrere weitere Dokumente, die sich wie die eben genannten im Hessischen Staatsarchiv Darmstadt erhalten haben. Da verhandelt de Quirit im Jahr 1814 über die Leitung eines Landwehr-Regiments und über die Verleihung des „Louisordens“. Möglicherweise hatte er einen besseren Draht zum Sohn des Großherzogs Ludewig I. An diesen adressierte er nämlich am 26. Dezember 1820, anlässlich des Geburtstags des „Erbgroßherzogs“ und späteren Großherzogs Ludwig II., einen langen Brief in französischer Sprache.
Mit vielen einschmeichelnden Worten bat er bei seiner Hoheit – als einer der treuesten Hessen (!) diesem ewig verpflichtet und dankbar – im Namen seiner „unter der Last des Schmerzes gebeugten, tugendhaftesten aller Ehefrauen“ um die Freilassung von Verwandten, die „in den schändlichsten Gefängnissen Darmstadts“ „an der Pforte des Grabes“ stöhnten – „sie haben zweifellos gesündigt, aber ach, wie viele bittere Tränen haben sie schon vergossen!“.
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