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Volksfest in spätgotischer Kapelle: „Alles ging zum Beller Markt“

Die Beller Kirche ist eine bekanntesten in Rheinhessen. Über Jahrhunderte fand an der einsam gelegenen Kapelle zwischen Eckelsheim und Wendelsheim ein großes Volksfest statt, eine Mischung aus Supermarkt und Kirmes

Von 
Klaus Backes
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Die spätgotische Kirche war über Jahrhunderte Mittelpunkt des Beller Marktes. Hier traf sich die Bevölkerung der ganzen Region. © Klaus Backes

Die Beller Kirche zählt zu den bekanntesten Gotteshäusern Rheinhessens. Auf den ersten Blick wirkt das kurios, denn die an der Straße zwischen Eckelsheim und Wendelsheim gelegene Ruine fällt im Vergleich zu vielen kunsthistorisch interessanten Dorfkirchen der Region deutlich ab: ein recht einfacher spätgotischer Bau ohne besondere Zierelemente. Und über seine Geschichte weiß man nur wenig. Der Rittersmann Wirich IV. von Daun-Oberstein, Herr zu Falkenstein, hat die Kirche gestiftet, ebenso übrigens die bekannte Felsenkirche bei Idar-Oberstein. Er stirbt 1501 im damals ungewöhnlich hohen Alter von rund 85 Jahren und wird im pfälzischen Otterberg bestattet, einer Klosterkirche der Zisterzienser.

Eine Urkunde von 1490 erwähnt den „angefangenen Bau einer Kapelle und darin ein Altar zur Ehre unserer lieben Frau, genannt in den Bellen“. Der seltsame Name leitet sich vermutlich von den in der Region „Bellen“ genannten Pappeln ab, die hier einst gestanden haben. Dazu passend wird 2019 zum 500. Jahrestag der Fertigstellung eine Pappel gepflanzt und von der Eckelsheimer Weinprinzessin Isabell mit Weißwein getränkt. Weshalb der Ritter sich ausgerechnet diesen Standort ausgewählt hat, bleibt im Dunkeln. Vorgeschichtliche Funde deuten auf eine frühe Besiedlung des Areals hin, und eine ehemals wichtige Straße führte hier vorbei. Manchmal wird eine hölzerne Vorgängerkirche erwähnt, für deren Existenz es allerdings keine Belege gibt.

Marien-Wallfahrt lockt zahlreiche Gläubige

Bald nach 1490 dürfte der Chorbereich vollendet gewesen sein. Das berühmte Zisterzienserkloster Eberbach im Rheingau stellt die Geistlichen, die wiederum von den Einkünften der Kirche wie Spenden leben. Eine Marienwallfahrt lockt vermutlich die Gläubigen an. 1519 ist die Erweiterung der Kirche abgeschlossen. Darauf deutet die Zahl im westlichen Portalbogen hin. Seltsamerweise haben sich keine Angaben über die Zerstörung der Kirche erhalten. Im 17. Jahrhundert soll es gewesen sein. Gelegenheiten dafür gibt es in diesem Katastrophen-Jahrhundert genug, vor allem den Dreißigjährigen Krieg oder den durch Frankreichs „Sonnenkönig“ Ludwig XIV. angezettelten Pfälzischen Erbfolgekrieg, der die Zerstörung der gesamten Region mit sich bringt.

Links das Innere der Kirche, die während des Marktes als Tanzsaal diente. Rechts ein spätgotisches Portal des ehemaligen Gotteshauses. © Klaus Backes

Angesichts der schlichten Bauweise und dem Fehlen von Dächern und Gewölben ist es erstaunlich, dass das Kirchlein die Hochachtung der Kunsthistoriker genießt. „Trotz der reduzierten Zierformen ist die wohlerhaltene Ruine ein anschauliches Beispiel rheinhessischer Kirchenbauten aus der Zeit um 1500“, heißt es im Band der „Kulturdenkmäler in Rheinland-Pfalz“.

Aber weshalb der hohe Bekanntheitsgrad des Kirchleins in Rheinhessen? Wegen des Beller Markts, einer Art Volksfest, das bis 1902 in und um die Ruine abgehalten wurde. Mag sein, dass er seine Ursprünge in der Wallfahrt hat. Vor allem zu Mariä Geburt am 8. September werden sich Massen eingefunden haben. Diese Großveranstaltungen hatten nämlich nicht nur ihre frommen Aspekte. Dazu kommen Essen, Trinken und Geselligkeit. Doch irgendwann geht es nicht mehr nur darum. Auch Händler aus der Großregion geben sich ein Stelldichein, um ihre Waren loszuschlagen.

Hinweise für Besucher

  • Anfahrt von Mannheim: über die Rheinbrücke nach Ludwigshafen und weiter auf der A650 bis zum Autobahnkreuz Ludwigshafen. Dort auf die A61 in Richtung Koblenz/Mainz/Kaiserslautern. Am Autobahnkreuz Alzey auf die A63 Richtung Kaiserslautern. An der Abfahrt Erbes-Büdesheim die Autobahn verlassen. Weiter nach Wendelsheim und rechts in Richtung Eckelsheim. Die Beller Kirche liegt etwa 300 Meter vor dem Ort auf der rechten Seite. Gegenüber befindet sich ein großer Parkplatz.
  • Entfernung von Mannheim: etwa 60 Kilometer, Fahrzeit ungefähr 45 Minuten.
  • Öffnungszeiten: Die Ruine ist jederzeit frei zugänglich.
  • Literatur: Generaldirektion kulturelles Erbe: Denkmaltopgraphie Bundesrepublik Deutschland. Kulturdenkmäler in Rheinland-Pfalz, Kreis Alzey-Worms, Band 20.4, Verbandsgemeinden Wöllstein und Wörrstadt, Worms 2021. Heinrich Bechtolsheimer: Zwischen Rhein und Donnersberg. Erstmals 1903 erschienen, spätere Neuauflagen. kba

Eine schriftliche Erwähnung findet der Markt, der von den Gemeinden Eckelsheim, Wonsheim, Stein-Bockenheim und Wendelsheim veranstaltet wird, erstmals im Jahr 1620. Vielleicht ist dieses jährliche Großereignis im September auch der Grund dafür, dass die Außenmauern der Kapelle trotz Reformation und Teilzerstörung noch stehen. Denn das Innere dient dann als Tanzboden. Zudem wird wohl im 18. Jahrhundert eine unterirdische Flachsdarre in die Ruine eingebaut, übrigens die einzig erhaltene im Landkreis aus dieser Zeit.

Die Bedeutung des Markts belegen die Erwähnungen in der Regionalliteratur. „Alles, was Beine hatte, ging zum Beller Markt“, erinnert sich Heinrich Bechtolsheimer (1868 bis 1950), der Pfarrer und rheinhessische Heimatschriftsteller. Diese Mischung aus Supermarkt und Kirmes zieht die Bevölkerung, die ansonsten wenig Abwechslung kennt, magnetisch an. Wein- und Imbissstände im Dutzend gibt es, Kaffee- und Waffelhütten. Händler aus Pirmasens bieten Schuhe an, solche aus Lambrecht Tuch. Haushaltswaren warten auf Käufer, Spinnräder und vieles mehr. Das Unterhaltungsangebot um 1850: Karussells, Feuerschlucker, Seiltänzer, Kunstreiter, Drehorgel- und Harfenspieler, Wachsfigurenkabinette und anderes.

Auch der Schinderhannes kommt zu Besuch

1858 sollen derartige Mengen getrunken worden sein, dass das Wasser des Bellerbrünnchens nicht zum Spülen der Gläser ausreicht. Bewaffnete Wachen sorgen für Ordnung, doch Schlägereien gibt es trotzdem. Nach alten Überlieferungen zählt auch der berühmte Räuberhauptmann Schinderhannes zu den Marktbesuchern. Er soll beim Aufstellen des Kerwebaums geholfen, Karten gespielt und sich insgesamt ordentlich benommen haben. Einen Beller Markt gab es sogar in New York, wo sich Auswanderer aus Rheinhessen trafen, um das traditionelle Fest zu feiern.

Wo sich früher ein Gewölbe befand, schaut heute der Himmel herein. © Klaus Backes

Auch in Bechtolsheimers 1903 erschienener Erzählung „Zwischen Rhein und Donnersberg“ spielt die Beller Kirche eine wichtige Rolle. In Wonsheim erzählen demnach Anfang des 19. Jahrhunderts Leute von unheimlichen Lichtern in der Beller Kirche. Die Ruine hat ohnehin keinen guten Ruf, da sei es nicht geheuer, heißt es in der Region. Alle kennen nämlich die Geschichte vom Haselmüller. Dieser hatte vor vielen Jahren einen Prozess um einen Acker verloren.

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Wie es der Zufall fügt, nimmt er in der damals noch intakten Beller Kirche an einem Abendmahlgottesdienst teil und steht in der Reihe vor dem Altar ausgerechnet neben seinem Kontrahenten. Es wäre wohl eine harmlose Begegnung gewesen, wenn dieser dem Haselmüller nicht hämisch zugeflüstert hätte: „Jetzt ist der Acker mein.“ Der Müller rastet aus, reißt das schwere Kreuz vom Altar und erschlägt seinen Feind damit. Der Täter verliert den Kopf, doch damit nicht genug: Zur Strafe für seine Tat findet er im Grab keine Ruhe, und am Jahrestag des Mordes sucht er in der Beller Kirche nach Blutspuren, um sie wegzuwischen. Dafür, so sagen die Leute, braucht er das Licht, das schon mehrmals gesehen wurde.

Bald kommen zwei junge Männer auf nächtlichem Heimweg an der Kapelle vorbei. Tatsächlich sehen sie Licht in der Ruine und schleichen sich lautlos an, um das Rätsel zu lösen. Vor dem Feuer sitzt ein in Lumpen gekleideter Mann, der sich gerade Kartoffeln brät. Einer der beiden Beobachter stolpert, und der Unbekannte ergreift die Flucht. Doch die Verfolger holen ihn ein und blicken in ein bekanntes Gesicht: Es handelt sich um einen Wonsheimer, der aus der napoleonischen Armee desertiert war. So klärt sich das Rätsel um das Gespenst der Beller Kirche.

© Klaus Backes

Bechtolsheimer kombiniert hier eine alte Sage von der Kirche mit der historischen Tatsache der Konskription von Rekruten durch die französische Armee in den annektierten Gebieten. Jedes Department muss eine bestimmte Anzahl von Männern stellen. Kaum einer will aber Soldat werden, denn in der Armee geht es rau zu, und die Verluste sind hoch. Nebenbei liefert Bechtolsheimer in seiner Geschichte einen - wenn auch unwahrscheinlichen - Grund für den Verfall der Kirche: Nach dem Mord gilt sie als verflucht und wird gemieden.

Bürger bringen Leben in die Ruine

Obwohl jahrhundertelang ohne Dach präsentiert sich die Ruine in einem guten Zustand. Das ist den Sanierungen des 20. Jahrhunderts zu verdanken, die letzte 1999/2000. Danach bemühen sich kulturinteressierte Bürger, wieder Leben in die Beller Kirche zu bringen. Die Gruppe „Bella Kultura“ veranstaltet klassische Konzerte und Theateraufführungen, Weinabende und Vorträge. Doch als nur noch wenige Leute mitmachen, ebben die Aktivitäten ab.

Doch da ist noch jemand. Der Kunstschmied Jürgen Graf organisiert etwa zwölf Veranstaltungen pro Jahr, darunter das „Beller Spectaculum“ , das in diesem Jahr vom 19. bis 21 Juli stattfindet. Den Begriff „Spectakulum“ hat er gewählt, um sich von üblichen Mittelaltermärkten abzuheben. Ihm geht es darum, Originales zu bieten, das Mittelalter wieder aufleben zu lassen.

Andere Veranstaltungen haben keltische Wurzeln, das keltische Erntedankfest am 11. August, der Tag des Waldgottes Belenos am 25. August, das Fest der Toten vom 30. Oktober bis 1. November und andere. Damit spielt er auf die Geschichte des Ortes an: „Am Wegesrand wurde das Grab einer keltischen Frau und eines Kindes gefunden.“ Der „Schmuddelwetter-Eintopf“ am 24. November und das Fest zur Wintersonnenwende am 21. Dezember beenden das Programm 2024.

Weshalb hat der Schmied für seine Veranstaltungen ausgerechnet diesen Platz gewählt? „So wie einst unsere keltischen Vorfahren lebe ich mit der Kraft der Natur, das wollen wir auch unsere Besucher erleben lassen.“

Redaktion

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