Mannheim. Ein feste Burg ist unser Gott – so lautet der Titel eines alten evangelischen Kirchenliedes. Ein wenig so wirkt gerade diese Kirche. Mit ihren Außenwänden aus rotem Sandstein, der regelrecht zu leuchten scheint. Im Inneren dagegen aus tiefdunklem Holz Gebälk und Gestühl, das ebenso aus der Anfangszeit stammt wie die Bodendielen, die denn auch an manchen Stellen hörbar knarren. Die Kanzel wiederum einfach gemauert in Form eines Brunnens, wie die Wände weiß getüncht nur, damit noch schmuckloser, als protestantische Gotteshäuser ohnehin schon sein sollen.
Und dennoch. Als Dieter Peulen das Bauwerk präsentiert, da funkeln seine Augen. Zeit seines Lebens ist er, zwei Jahre älter als diese Kirche, mit ihr verbunden. Hier wird er getauft, konfirmiert, getraut. Seit 50 Jahren im Ältestenkreis, seit 20 Jahren Vorsitzender – er erlebt, ja gestaltet die Geschichte der Gnadenkirche mit, die vor 75 Jahren beginnt.
Ein Rückblick. Deutschland 1945: Auch die Kirchen liegen darnieder. Sowohl in ihrer Glaubwürdigkeit, weil dem millionenfachen Tod jüdischer Mitmenschen nicht genug widerstanden. Als auch praktisch: Viele Kirchen in den Innenstädten sind zerstört, in ihren Außenbereichen durch den Zustrom von Flüchtlingen und Vertriebenen neue Siedlungen entstanden, deren Bewohner kirchlicher Betreuung bedürfen.
Doch für die meisten Deutschen zählt in der Stunde Null eher, für sich Nahrung zu sichern, ein Dach über dem Kopf. Die Instandsetzung oder der Neubau von Kirchen ist für sie kein Thema. Dennoch: Mancher Mensch lebt auch damals nicht vom Brot allein. Früh streben Gläubige in den Gemeinden vor Ort danach, zerstörte kirchliche Räumlichkeiten wiederherzustellen, alternative Standorte für die religiöse Arbeit zu finden, den Bau neuer zu planen.
Bereits im August 1945 entsteht zu diesem Zweck das „Hilfswerk der Evangelischen Kirchen in Deutschland“, abgekürzt HEKD, mit Zentrale in Stuttgart. 1947 legt die Organisation ein Bauprogramm für „Notkirchen“ auf. Ziel ist es, Kirchen schnell und kostengünstig zu errichten.
Ein renommierter Architekt entwirft das Baukonzept
Die Verantwortlichen entscheiden sich für ein Konzept von Otto Bartning, damals bereits an die 70, aber gerade daher ein erfahrener Architekt. Mit Walter Gropius gehört er zu den Protagonisten der Moderne in der Architektur. Bereits in den 1920er Jahren tritt er durch unkonventionell gestaltete Kirchenbauten hervor, wird Direktor der Staatlichen Bauhochschule in Weimar, aber von den Nationalsozialisten seines Amtes enthoben. In der NS-Zeit schlägt er sich mit Kirchenaufträgen durch, wie etwa der Restaurierung der Heiliggeistkirche in Heidelberg, knüpft auch Kontakte in den christlichen Widerstand, etwa zu Eugen Gerstenmaier, dem späteren CDU-Politiker und Bundestagspräsidenten.
Bartnings Konzept für den Kirchenneubau ist bewusst einfach: eine tragende Holzkonstruktion, die in Serie gefertigt und erst am jeweiligen Standort ausgebaut wird. Die Gemeinden müssen, abgesehen von der Bereitstellung des Bauplatzes, die Fundamente und das äußere Mauerwerk errichten, zumeist aus Trümmersteinen, die in den Städten ja zur Genüge vorhanden sind, ebenso den Innenausbau mit Empore und Gestühl, Türen und Fenstern.
Wie und wo das Jubiläum gefeiert wird
- Lage: Im Norden der Stadt Mannheim, Stadtteil Gartenstadt, Straße Waldpforte/Ecke Karlsternstraße 1.
- Heinz-Erhardt-Abend: Die Frühzeit der Gemeinde fällt zusammen mit der Zeit des Wirtschaftswunders, und der Schauspieler Heinz Erhardt steht stellvertretend dafür. So ist ihm am Samstag, 8. Juni, 19 Uhr, ein Abend im Gemeindehaus gewidmet. Dieter Dietrich hält eine gespielte Lesung, begleitet von Eckhard Stadler am Piano. Der Eintritt ist frei.
- Festkonzert: Was wäre der Protestantismus ohne Kirchenmusik von Johann Sebastian Bach? Ein Festkonzert mit seinen Werken erklingt am Samstag, 15. Juni, 19 Uhr, in der Gnadenkirche. Organist Jochen Vogt spielt auf der Steinmeyer-Orgel, begleitet von vier Solisten.
- Festzug: Exakt am 75. Jahrestag der Einweihung von 1949, also am Mittwoch, 19. Juni, 19.30 Uhr. Wie damals führt dieser Spaziergang jetzt von der Pauluskirche am Taunusplatz auf dem Waldhof hin zur Gnadenkirche.
- Jubiläumsfest: Samstag, 22. Juni, 14.30 Uhr, mit Kinderprogramm. Um 18 Uhr Konzert unter dem Motto „Don’t stop me now“ mit den Pop Voices und Adrian Lewczuk am Piano.
- Festgottesdienst: Am Sonntag, 23. Juni, 17 Uhr, mit Landesbischöfin Prof. Dr. Heike Springhart. Danach Empfang im Gemeindehaus. Bereits ab 16.30 Uhr musikalische Einstimmung durch den Posaunenchor der Auferstehungsgemeinde.
- Repräsentanten der Gemeinde: Pfarrerin Miriam Waldmann, Ältestenkreis-Vorsitzender Dieter Peulen.
- Weitere Infos: im Internet unter waldhof-gartenstadt.ekma/de/ -tin
Die Notkirchen sind Säle mit rechteckigem Grundriss. Das Satteldach und die ungegliederten Außenwände verleihen ihnen einen zelt-ähnlichen Charakter. Die Eingänge befinden sich nicht mehr gegenüber dem Altar, sondern an der Seite – der Besucher muss sich bewusst hinwenden zu ihm, zum Altar, zu Gott.
Somit wird klar, dass für Bartning seine Konzeption nicht alleine architektonische Bedeutung hat, „dass Notkirchen nicht notdürftiger Behelf“ sind, wie er selbst formuliert, „sondern neue und gültige Gestalt aus der Kraft der Not bedeutet.“ Die extreme bauliche Reduzierung soll die Konzentration auf den Kern der Lehre symbolisieren und befördern – gerade nach den Verirrungen des Protestantismus in der NS-Zeit.
Insgesamt werden bis 1951 im Rahmen dieses Programms 48 Notkirchen in Deutschland errichtet, finanziert vom in der Schweiz beheimateten Weltkirchenrat vor allem mit Spenden aus den USA, durchschnittlich 10 000 Dollar pro Kirche. Als erste entsteht 1948 die Auferstehungskirche im vom Krieg besonders zerstörten Pforzheim. In Baden-Württemberg folgen vier weitere, darunter eine in Mannheim: die Gnadenkirche in der Gartenstadt.
Dabei ist dieser Standort eher untypisch für das Bauprogramm. Die hiesigen Protestanten, zur Paulusgemeinde Waldhof gehörig, verfügen bis dahin über keine eigene Kirche. Pläne für einen Neubau gab es zwar, wurden wegen des Krieges aber nie umgesetzt. Vor Kriegsbeginn 1939 entsteht gerade noch das Pfarrhaus.
Der Entschluss, die Gartenstadt nun zu berücksichtigen, ist eine kirchenpolitische, handle es sich hier doch um eine Siedlung, „die sehr unter kirchenfremder, um nicht zu sagen kirchenfeindlicher Propaganda steht“, wie die Mannheimer Bezirksstelle der HEKD unter Anspielung auf die von SPD und KPD geprägte politische Situation vor Ort in ihrem Förderantrag formuliert: „Damit verbunden weist dieses Gebiet auch eine verhältnismäßig große Jugendgefährdung aus“, setzt sie hinzu. Mit Erfolg: Die Gartenstadt kommt zum Zuge. Standort der Kirche wird das Grundstück, auf dem bereits das Pfarrhaus steht, damals noch immer am Rande der Besiedlung.
Am 8. September 1947 wird der erste Spatenstich gesetzt, die Arbeiten für das Fundament beginnen. Noch herrscht Mangel an Material. Manchmal landet dieses versehentlich auch anderswo: Denn sowohl der evangelische als auch der katholische Pfarrer heißen damals Weber.
Im April 1948 wird aus der Schweiz die ersehnte Holzkonstruktion geliefert. Am 19. September des gleichen Jahres feiert man Richtfest samt Grundsteinlegung, bei dem auch Architekt Bartning anwesend ist. Im Grundstein wird eine Metallkassette eingemauert, darin die übliche Urkunde sowie ein von der amerikanischen Bibelgesellschaft gestiftetes Exemplar der Heiligen Schrift.
Am 19. Juni 1949 erfolgt die Einweihung. Nach dem Abschiedsgottesdienst in der Pauluskirche zieht die Gemeinde unter den Klängen des Posaunenchors in feierlicher Prozession zur neuen Kirche. Festredner ist der Vertreter des Weltkirchenrates, Probst Halfdan Högsbro aus Kopenhagen, in seiner Heimat Dänemark bald Bischof. „Unsere größte Not ist die, dass wir nicht als Brüder miteinander leben können“, greift er den Begriff Notkirche auf, „dass wir einander das Leben so schwer machen und verderben.“
Im Laufe der Jahrzehnte erfolgt die Ausgestaltung
Beim Namen Notkirche bleibt es nicht. Als neuer ist zunächst Philadelphia im Gespräch – jene Stadt der USA, aus der viele Spenden für den Bau kommen. Man entscheidet sich dennoch dagegen, weil sich dieser Name nicht selbst erklärt und wohl auch zu sehr nach der Besatzungsmacht klingt. Am Ende wählt man Gnadenkirche – als Zeichen der Gnade, diese Kirche erhalten zu haben.
Eine Gnade ist die Kirche in der Tat, denn das Gemeindeleben blüht auf: Knapp drei Wochen nach ihrer Weihe gründet sich ein Kirchenchor, im Jahr darauf wird die erste Konfirmation mit 84 Jugendlichen gefeiert. 1952 kommt eine Orgel hinzu, 1954 der Kirchturm, 1955 die Glocken.
„Die äußere Not ist bei uns wenigstens weithin behoben“, konstatiert Pfarrer Weber zum 25. Jubiläum 1974 weitsichtig: „Die innere seelische Not ist umso größer geworden.“ Die Zahl der Gläubigen geht dramatisch zurück, das bedeutet weniger Mittel. Die Mannheimer Gesamtkirchengemeinde muss reagieren. In ihrem Raumkonzept von 2022 gehört die Gnadenkirche zur Kategorie B: mittelfristiger Erhalt. Auch eine Art Geburtstagsgeschenk.
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