Digitalisierung

So revolutioniert ein mit Mannheim verbundenes Unternehmen die Musikbranche

Hinter einer neuen Musik-App steckt die Berliner Enote GmbH und ihre klugen Köpfe. Als Geschäftsführer mit dabei ist auch der Chefdirigent der Mannheimer Philharmoniker und der Unternehmer Manfred Fuchs mit der Fuchs Kapitalgesellschaft

Von 
Stefan M. Dettlinger
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Eine Enote-Ansicht: Beethovens letzte Klaviersonate op. 111 in der Ausgabe „Urtext“ des G. Henle Verlags. © /Dolch/Dettlinger

Mannheim. Die Suche nach Beethoven ergibt 358 Matches, sprich: So viele Notenausgaben mit Musik von Beethoven sind da. Die Datenbank der Enote-App ist rappelvoll von Musik des großen Klassikers. Auch die „Neunte“ ist dabei - mit Schillers „Ode an die Freude“. Aber nicht nur. Unter Mozart findet man 551 Treffer. Unter Schubert 843. Unter Bach 1236. Bei Wagner sind es zwar nur 19. Darunter sind aber Musikdramen wie „Götterdämmerung“ aus dem „Ring des Nibelungen“ mit allein 340 Seiten. Zählt man die anderen „Ring“-Teile dazu, landet man bei 1200 Seiten Notenmaterial. Und sucht man dann ganz ohne Filter, zeigt die Ergebnisliste sogar stolze 19 872 Treffer - und alles ist umsonst. Wie kann das sein?

Ganz einfach: Es handelt sich um Material, an dem niemand mehr Rechte besitzt: weder Urheber noch Leistungsschutzinhaber. Das sagt auch Josef Tufan bei einem Telefongespräch mit der Redaktion. Er ist einer von zwei Geschäftsführern der Enote GmbH mit Sitz in Berlin. Das Startup befindet sich direkt am S-Bahnhof Alexanderplatz. „Wir arbeiten da auch mit den bekannten Editionen zusammen“, so Tufan. 90 Prozent der Noten, die Enote digitalisiert, kämen aus Print-Editionen.

Neue Enote-App: Boian Videnoff ebenfalls Chef

Dass Profi-Musikerinnen irgendwann kein Papier mehr auf Notenpulte legen würden, war in Zeiten der Digitalisierung nur eine Frage der Zeit. Enote ermöglicht, was beim E-Book längst geht: dass Musiker quasi die ganze Musikgeschichte auf einem kleinen Gerät mit sich herumtragen und immer dabei haben können.

Das Startup befindet sich derzeit in der Beta-Phase, ergo: Man testet. Hinter dem Unternehmen, das laut Tufan 40 Menschen vor allem aus dem IT-Bereich und der Musikwissenschaft beschäftigt, steckt als zweiter Geschäftsführer auch der Chefdirigent der Mannheimer Philharmoniker: Boian Videnoff. Und noch einen Mannheimer Bezug gibt es: Manfred Fuchs, der - ziemlich beharrlich und mit öffentlichem Nachdruck - auch Videnoffs Philharmoniker unterstützt. „Die Fuchs Kapitalgesellschaft“, sagt Tufan, „ist größter Gesellschafter der Enote.“ Umgekehrt sind die Mannheimer Philharmoniker auch der erste Testpartner der Enote gewesen. Sie spielen schon seit Jahren alles auf Enote.

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Wie viele Startups, so ist auch die Enote ein Zuschussgeschäft. Bei einem Stammkapital von heute gut 70 000 Euro fuhr das Unternehmen 2021 noch einen Verlust von 3,2 Millionen Euro ein. Kein Wunder: Erst „ab 2025 streben wir eine Monetarisierung an“, sagt Tufan. Momentan erwirtschafte man eben noch Fehlbeträge. Der Bundesanzeiger sieht hier das „Bestehen einer wesentlichen Unsicherheit, die bedeutsame Zweifel an der Fähigkeit der Gesellschaft zur Fortführung der Unternehmenstätigkeit aufwerfen kann und die ein bestandsgefährdendes Risiko darstellt“. Für Startups Normalität.

Woher soll das Geld auch kommen? 80 000 Menschen nutzten die Enote-App derzeit, so Tufan, ein Großteil in den USA und Europa. Aber eben kostenlos. Das soll sich ändern: „Unser Geschäftsmodell konzentriert sich derzeit darauf, Editionen weltweit über Enote an Institutionen zu verkaufen, etwa Bibliotheken, Musikschulen, Hochschulen.“

Im Unternehmen selbst ist man natürlich von einer Revolution überzeugt. Zitiert wird in einer Mitteilung etwa Videnoff, der von einer „unglaublichen“ Resonanz bei Musizierenden spricht. Oder auch die Starsopranistin (und Videnoff-Freundin) Sonya Yoncheva, die befindet, dass Enote die Art und Weise grundlegend verändern wird, „wie wir Partituren verwenden und Musik üben“.

Künstliche Intelligenz arbeitet mit

Die Welt ist riesig, und der Markt ist es auch. Dennoch ist Tufan überzeugt, dass die Enote derzeit konkurrenzlos ist in dem, was sie tut. Am Alexanderplatz sieht man sich als globaler Marktführer. Das liegt daran, dass das eigentliche Thema hinter der Digitalisierung der Noten ein anderes ist: Künstliche Intelligenz. Denn Enote stellt mitnichten nur so etwas wie transportable Dokumentenformate (PDF) her. Im Gegenteil: Man dringt ins Skelett einer Partitur ein und erstellt aufgrund eines vorgegebenen Notenbildes quasi die analytische Version davon. Was man in der App sieht, ist also nicht die Fotografie eines Notenblattes, sondern die zugrundeliegende Datei, die man auch verändern kann. Es ist, so stimmt Tufan zu, wie der Unterschied zwischen einer Textdatei und einem PDF. Enote liefert die Textdatei.

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Und dort lässt sich (fast) alles verändern. Nicht nur das Layout, die Anzeigegröße und deren Stil, sondern, und das ist ein springender Punkt: etwa auch die Tonart - besonders interessant für Sänger, die ein Lied einfach in einer für die Stimme geeigneteren Lage interpretieren möchten.

Auch für die Probenarbeit in einem Orchester bietet Enote ein vielleicht revolutionäres Skill. Der Berliner Pianist Götz Schumacher (58) vom GrauSchumacher Piano Duo hatte erste Erfahrungen mit digitalen Noten während der Proben zu einer Uraufführung mit dem Ensemble Resonanz. „Das gesamte Ensemble spielte von iPads“, berichtet er auf Anfrage, „und der Vorteil ist überwältigend: Neue Fassungen, Korrekturen, Erweiterungen sind auf Knopfdruck bei sämtlichen Mitwirkenden und lassen sich sofort einarbeiten und speichern.“ Fehler, die sich immer einschlichen, blieben in gedruckten Ausgaben manchmal eine Ewigkeit. Nicht hier. Eintragungen zu Dynamik, Phrasierung und Agogik, die Dirigentinnen machen - sie sind im Nu bei allen. Ein sehr überzeugender Vorteil - wie auch das Umblättern per Fußpedal. Die App hat neben der Anmerkungs- auch eine Aufnahme- und Metronomfunktion. Zukunft ist (noch), dass sie mithören und -lesen kann. Dann würde sie auch selbst umblättern. Für Schumacher gibt es nur ein Risiko: „Das Pad darf nicht abstürzen und muss immer aufgeladen sein.“ Er sieht „eine fantastische Ergänzung“, die in einigen Fällen klassischen Notenausgaben deutlich überlegen ist, spielt aber weiter auch gern aus Papierbänden.

Edition regiert zurückhaltend

Um das alles machen zu können, haben die KI-Spezialisten von Enote ein Verfahren entwickelt: die Optical Music Recognition (OMR), mit dessen Präzision die Berliner laut Tufan „weltweit führend“ sind. Der Laie stellt es sich am besten so vor: Aus einem beschriebenen Blatt Papier wird eine Text-Datei gescannt, mit der man weiterarbeiten kann - nur dass ein Notenblatt ein Vielfaches mehr an Informationen enthält als Text allein. Eine technische Meisterleistung.

Und wie wird die Entwicklung von klassischen Noten-Editionen gesehen? Anfrage beim G. Henle Verlag in München, einem der führenden Hersteller von Urtextausgaben. Zu Enote will sich Managing Director Norbert Gertsch nicht äußern. Wen wundert’s! Die Enote benutzt auch kostenfrei Henle-Noten. Auf die Frage aber, wie es denn sein könne, dass man sich von einem Startup wie der Enote bei der Digitalisierung überholen lasse, antwortet Gertsch: „Von Überholen kann in unserem Fall keine Rede sein.“ Und dann verweist er auf das eigene Angebot, die digitale App Henle Library, die, wen wundert’s, exklusiv mit Noten des G. Henle Verlages funktioniert.

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Es spricht also einiges dafür, dass die Enote den Markt tatsächlich revolutionieren könnte - wenn nicht Apple, Google & Co. das Potenzial erkennen. „Wenn die mit Milliarden Dollar einsteigen, haben wir ein Problem“, sagt Tufan, dessen Ziel natürlich nicht ist, sich in so einem Fall einfach „einkaufen“ zu lassen.

Die Zeichen stehen also erst mal auf volle Kraft voraus. Und die Klassik ist ja erst der Anfang. In den kommenden Jahren will die Enote auch den Rock- und Popmarkt erreichen - frei nach dem Leonard-Cohen-Klassiker: „First we take classical, than we take all the music.“

Ressortleitung Stefan M. Dettlinger leitet das Kulturressort des „MM“ seit 2006.

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