Heidelberg. Als der Psychiater und Kunsthistoriker Hans Prinzhorn (1886-1933) im Jahr 1922 sein Standardwerk „Bildnerei der Geisteskranken“ veröffentlichte, ahnte er nicht, was für ein „Programm“ sich anderthalb Jahrzehnte später in den Köpfen von Politikern entwickelte, denen ein Psychiatrieplatz wohl eher zugestanden hätte als so manchem seiner Patienten.
Wo wird die Grenze gezogen?
Die Heidelberger Prinzhornsammlung, die seinen Nachlass betreut und auf immer neue Dokumente stößt, hatte bereits 2002/2003 eine Schau über „Euthanasie. Verdeckte Morde in der NS-Zeit“ veranstaltet. Inzwischen sind weitere Funde hinzugekommen, unter anderem ein großes Konvolut von Blumenpastellen der jüdischen Germanistin Hanna Hellmann, die 1942 im Vernichtungslager Sobibor ums Leben kam.
Die neue Ausstellung „Menschen die noch hätten leben können. Opfer des Nationalsozialismus in der Sammlung Prinzhorn“ zeigt eine Auswahl aus den rund 1800 Blättern.
In der Schau sind es 24 Biografien von Menschen, die aufgrund ihres „unwerten Lebens“ aus der „deutschen Volksgemeinschaft“ beseitigt wurden - und angesichts ihrer künstlerischen Hinterlassenschaften fragt man sich kopfschüttelnd, wie und wo denn die Grenze zwischen „Geisteskrankheit“ und „Normalität“ überhaupt gezogen werden kann. Einige der von den Nazis Gemordeten hatten aufgrund ihrer Geburt in prekären Verhältnissen wohl kaum eine Chance zu selbstbestimmtem Leben: So wie Gustav Frey, Sohn einer ledigen Haushälterin in Heidelberg, den man nach dem Aufenthalt in verschiedenen Kliniken 1939 aus Sparmaßnahmen einfach sterben ließ.
Aber man musste kein uneheliches Kind sein, um aus der Norm zu fallen, es genügte, notorisch die Anpassung zu verweigern - Wilhelm Sonntag, Schreiner und Kunststudent, Vater von vier Kindern, hatte aus Wut auf die besitzende Klasse nach und nach 500 Hotelbetten zerschnitten und durfte danach nirgends mehr Fuß fassen. 1940 wurde er in der Tötungsanstalt Grafeneck ermordet. Oder Franz Xaver Seitz, der mit 13 epileptische Anfälle bekam und nach Pflegeheim-Aufenthalt als „verblödet“ galt - er starb 1941 in der Tötungsanstalt Hartheim bei Linz.
Innere Ängste formuliert
Was auffällt, ist sowohl das kreative Potenzial der Patienten, mit dem innere Bedrängnisse formuliert wurden, als auch der oft damit verbundene Versuch, sich mitzuteilen, nach außen zu kommunizieren, was bei den Adressaten auf taube Ohren, beziehungsweise blinde Augen stieß.
Wer allerdings noch bestimmte Nützlichkeitskriterien erfüllte, wurde nicht fürs KZ oder die Vernichtungsanstalt ausgesondert, sondern zwangssterilisiert, um weiteres unwertes Leben zu verhindern. So geschehen mit Max Hatzenbühler, bei dem „die Gefahr bestand, dass er eines Tages kriminell werden könnte“ - physisch und mental zu schwach, um Arbeit zu verrichten, näherte er sich immer wieder Kindern und zeichnete sie - zwei Blätter eines Hitlerjungen sind in der Schau zu sehen.
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