Herr Jagger, Ihr letztes Album „A Bigger Bang“ liegt 18 Jahre zurück. Haben Sie bewusst so lange gewartet, bis niemand mehr mit neuen Stones-Songs gerechnet hat - bis da kein Druck und keine Erwartungshaltungen mehr vorhanden waren?
Mick Jagger: (lacht) Ich schätze, man hatte uns inzwischen tatsächlich längst aufgegeben. Dabei haben wir ja ein Blues-Album veröffentlicht und eigentlich ständig aufgenommen - wir haben über die Jahre etliche Sessions abgehalten, aber das Resultat war eben nie das, was wir uns erhofft hatten. Es war nicht gut genug. Jedenfalls haben wir uns 2022 entschieden, es ein letztes Mal zu versuchen, uns diesmal voll zu konzentrieren und mit richtig starkem Material aufzuwarten. Dazu haben wir einen neuen Produzenten verpflichtet, uns eine Deadline gesetzt, die Köpfe zusammengesteckt und geschaut, was dabei herauskommt.
Mick Jagger
- Mick Jagger wurde als Michael Philip Jagger am 26. Juli 1943 in Dartford, England, geboren.
- Die Rolling Stones haben schätzungsweise 200 Millionen Alben weltweit verkauft, und Jagger hatte 13 Nummer-eins-Hits in Großbritannien und den USA, 32 Singles in den Top 10 und 70 Singles in den Top 40.
- Die Band wurde im Jahr 1989 in die Rock and Roll Hall of Fame aufgenommen, und Jagger wurde insgesamt 16 Mal für den Grammy Award nominiert, sowohl als Solokünstler als auch mit der Band, und hat dreimal gewonnen.
- Seit 2003 darf er als Ritter den Titel „Sir“ tragen.
Gitarrist Keith Richards bezeichnet die Aufnahmen als „Blitzkrieg“, von dem er sich erst einmal erholen müsse. War es wirklich so anstrengend - und ging letztlich alles ganz schnell?
Jagger: Ich spreche kein Deutsch - insofern weiß ich nicht, was das Wort bedeutet. Aber: Es ging wirklich überraschend schnell. Wir hatten uns entschieden, uns selbst eine Deadline zu setzen - was wir lange nicht mehr getan hatten. Einfach, um uns dann doch wieder ein bisschen unter Druck zu setzen und uns selbst herauszufordern. Wir fingen also irgendwann im November an und legten uns darauf fest, dass das Ganze - egal, was es ist - am Valentinstag 2023 fertig gemixt sein müsste. Was durchaus ehrgeizig war. Also haben wir alle Songs vorbereitet, sie noch einmal geprobt und uns dann mit Andrew Watt ans Aufnehmen gemacht. Wir haben zwei bis drei Stücke pro Tag geschafft - und das Ganze in drei Wochen durchgezogen. Das war also ziemlich schnell. Anschließend mussten wir noch ein paar Overdubs aufnehmen und natürlich den Endmix erledigen. Aber es ging wirklich wahnsinnig schnell - weshalb das auch die beste Vorgehensweise ist.
Dabei warten die Songs mit einer imposanten Gästeliste auf: Paul McCartney, Bill Wyman, Stevie Wonder, Elton John und Lady Gaga. Kommerzielles Kalkül oder purer Zufall?
Jagger: Einige davon sind tatsächlich reiner Zufall. Wir haben ja unter anderem in Los Angeles aufgenommen - wo immer jemand an neuer Musik bastelt. Und im Henson Studio, das aus vier separaten Räumen besteht, war ständig jemand, den wir gut kannten. Zum Beispiel Lady Gaga, die vorbeigeschaut hat - ein glücklicher Zufall, und nichts anderes. Wir haben sie nicht gefragt - sie kam in den Kontrollraum, hat sich angehört, was wir machen, und dann mitgesungen. Das war fantastisch. Es hat mir wirklich sehr gefallen. Und was Paul betrifft: Er war in LA, um eine Woche mit Andrew Watt zu arbeiten, und wir haben ihm einfach einen Tag davon geklaut. Wir meinten zu ihm: „Warum spielst du nicht einen Tag mit uns - das wollten wir doch schon immer mal machen?“ Und mit Bill war es so, dass wir noch diese beiden Songs mit Charlie Watts am Schlagzeug hatten, die wir sehr mochten und die von 2019 datieren. Wir hielten es für eine gute Idee, wenn Bill da mit Charlie spielt und die Original-Rhythmus-Sektion somit noch einmal für ein Stück zusammenkommt. Bill fand das ebenfalls toll - deswegen hat er mitgemacht. Was Elton betrifft, so haben wir nach jemandem gesucht, der keine große Klavier-Einlage beisteuert, sondern der halt ein bisschen Boogie-Woogie im Hintergrund spielt. So, wie wir das früher oft gemacht haben. In den guten alten Tagen. (lacht) Und darin ist Elton sehr gut - er beherrscht diesen altmodischen Boogie-Style, der nicht so sehr hervorsticht.
Und Charlie Watts hört man auf zwei Stücken des Album?
Jagger: Ganz genau. Wir haben etliche Stücke mit ihm, die wir über die Jahre aufgenommen, aber nie veröffentlich haben. Doch als wir den zweiten Anlauf unternommen haben, wollten wir die nicht einfach recyceln, sondern etwas Neues machen. Gleichzeitig gab es diese beiden Stücke, von denen ich denke, dass sie Charlie gut repräsentieren. Und es ist nett, ihn dabei zu haben. Er war schließlich noch an dem Album beteiligt.
In Fan-Kreisen heißt es: Es kann keine Stones ohne Charlie geben. Wie denken Sie darüber?
Jagger: Was soll ich dazu sagen? Wenn einige Leute so denken, bitte sehr. Ich finde, wir haben auch als Trio noch etwas zu sagen. Und so lange das der Fall ist, werden wir weitermachen. Was nicht heißt, dass ich Charlie nicht vermisse - natürlich tue ich das.
Warum haben Sie sich für den Slang-Begriff „Hackney Diamonds“ als Albumtitel entschieden - haben Sie Erfahrung mit Einbrechern?
Jagger: (lacht) Ich hatte Leute, die meine Autos mit Schlüsseln zerkratzt haben und solche Sachen. Meine Windschutzscheibe wurde bislang aber noch nicht eingeschlagen. Doch im Ernst: Ich hielt den Titel allein deshalb für gut, weil es heutzutage gar nicht so einfach ist, mit etwas aufzuwarten, das noch nicht verwendet wurde. Das ist das eine. Und dann sind wir ja auch eine Band aus London - und es war mir wichtig, das zum Ausdruck zu bringen. Außerdem ist das Ganze sehr evokativ.
In „Whole Wide World“ singen Sie: „you think the party´s over, well it´s only just begun.“ Und in „Dreamy skies“ empfehlen sie, einfach mal eine Verschnaufpause auf dem Land einzulegen und das Telefon auszuschalten. Ist das praktische Lebenshilfe, wenn nicht Lebensweisheit á la Mick Jagger?
Jagger: Ja, und eine ist urban - die andere ländlich. (kichert) In „Whole Wide World“ führe ich Dinge auf, die einen depressiv machen können - und versuche dann, eine helfende Hand zu reichen. Also ein paar simple Ratschläge zu erteilen. Während in „Dreamy Skies“ viele Lockdown-Impressionen auftauchen. Und es ist tatsächlich so: Wenn einem das Leben in der Stadt zu viel wird, ist es wichtig, eine Pause davon einzulegen. In meinen Beschreibungen des Landlebens habe ich viel von dem eingestreut, was mir während der Pandemie durch den Kopf gegangen ist. Eben wie schön der Himmel sein kann, wenn da keine Flugzeuge unterwegs sind. Solche Sachen …
Was ist mit der ersten Single „Angry“ - wie viel Sozialkommentar verbirgt sich dahinter?
Jagger: Einiges. Wobei es schon immer Wut auf der Welt gegeben hat - das ist weiß Gott kein neues Gefühl. Aber wenn ich so darüber nachdenke, ist es heute doch sehr stark und weit verbreitet. Einiges davon ist berechtigt, anderes nicht. Aber es wird definitiv stärker artikuliert. Es ist offensichtlicher und allgegenwärtig. Und vielleicht sollten wir lernen, uns da ein bisschen zurückzuhalten und in unseren Ansichten nicht zu radikal zu werden. Nur: Es gibt bestimmt auch jede Menge Leute, die das Recht haben, auf bestimmte Dinge wütend zu sein. Und seien wir ehrlich: Auch Beziehungen wären ohne gelegentlichen Ärger unmöglich. In einer Partnerschaft rasselt man immer mal aneinander. Es geht gar nicht ohne. (lacht) Aber man hält sich halt an der Hoffnung fest, dass die Emotionen nicht zu sehr überkochen.
Also gibt es allein deshalb so viele Beziehungsstücke von den Stones, weil Sie da so viel Erfahrung haben - oder weil Beziehungen einfach ein gutes Thema sind, um sich lyrisch daran abzuarbeiten?
Jagger: Das sind sie definitiv. Und deshalb handeln ja so viele Popsongs von Beziehungen. Obwohl: Ich habe auch etliche Stücke geschrieben, die sich nicht darum drehen. „Dreamy Skies“ hat zum Beispiel so gar nichts damit zu tun - und wir haben auch noch andere Songs aufgenommen, für die dasselbe gilt. Aber natürlich findet sich auf der Platte einiges zu dem Thema. Einfach, weil das bei uns Tradition hat - es gehört halt dazu. Und letztlich ist es natürlich auch eine Frage der Balance. Es darf nie zu viel vom einen oder anderem sein - das ist wichtig. Ich denke, das kriegen wir nach all den Jahren ganz gut hin.
Ist „Hackney Diamonds“ nun das vielbeschworene letzte Album der Stones - ist es „the last time“ - oder arbeiten Sie, wie gemunkelt wird, tatsächlich schon am Nachfolger?
Jagger: Wir sind wirklich dabei, ein weiteres Album zu machen. Und wir sind da auch schon ziemlich weit, weil wir während der „Hackney Diamonds“-Session über 23 Songs aufgenommen haben. Von daher ist dieses neue Album nur der erste Teil. Ich schätze, wir werden noch ein paar zusätzliche Stücke aufnehmen und dann schauen, was uns am besten gefällt. Deshalb ist da auch noch nicht Schluss.
Wird dann wieder Paul McCartney aushelfen - machen Sie ihn auf seine alten Tage noch zum Ehren-Mitglied der Stones?
Jagger: (kichert) Paul hat während der Sessions in LA tatsächlich noch ein weiteres Stück mit uns aufgenommen. Insofern: Vielleicht greifen wir ja darauf zurück. Ich glaube aber nicht, dass er sich uns anschließen möchte. Warum sollte er das? (lacht) Wir spielen aber sehr gerne mit ihm. Er ist jederzeit willkommen.
Das klingt so, als ob Sie gerade eine sehr kreative Phase erleben. Oder ist das nur Torschlusspanik?
Jagger: Nein, es ist definitiv eine Phase, in der wir endlich mal wieder richtig kreativ sind. Schließlich entstanden die meisten dieser Songs erst vor kurzem, und die Aufnahmen des Albums gingen sehr schnell von statten. Von daher: Wir sind gerade gut drauf, und das ist ein tolles Gefühl.
Werden Sie mit dem Album auf Tour gehen - wie bei den Stones üblich?
Jagger: Wir denken zumindest darüber nach - und das sehr intensiv. Wir würden das gerne für nächstes Jahr anpeilen - dann auch schon mit dem nächsten Album im Gepäck. Aber: Bislang ist nichts gebucht, und deshalb haben wir noch nichts angekündigt. Es ist eine große Sache, die gut geplant sein muss.
Woher nehmen Sie mit 80 eigentlich noch die Energie für Tourneen und stressige Sessions? Was ist ihr Geheimnis?
Jagger: (lacht) Nun, es ist wirklich nicht der einfachste Job der Welt - so viel ist sicher. Man braucht eine Menge Energie dafür - wie das Album zeigt. Rockmusik muss Energie haben, sonst funktioniert sie nicht. Und wir hätten ja auch ein Album machen können, das sehr relaxt und entspannt anmutet. Vielleicht sogar eins, das wehmütig, leise und zurückhaltend klingt. Aber das haben wir nicht. Einfach, weil wir das nicht wollten. Ich bin der Meinung, dass gute Rockmusik energetisch sein muss und ich liebe es, energetische Songs zu schreiben. Eben Sachen wie „Bite My Head Off“, aber auch alles, was mindestens 150 Beats pro Minute aufweist. Das ist mein Ding. Und ich fühle mich gerade sehr energetisch.
Also ist 80 das neue 40?
Jagger: Nicht ganz. (kichert) Es ist eher das neue 79.
Als jemand, der alles gesehen, erlebt und erreicht hat: Worin besteht Ihre Motivation, einfach immer weiter zu machen - auch nach 61 Jahren in diesem Geschäft?
Jagger: Ich habe wirklich eine Menge getan und erlebt, aber was mich momentan motiviert, ist allein die Tatsache, dass wir ein Album gemacht haben, das ich für wirklich gut halte. Denn das war meine größte Sorge: Dass wir etwas zusammenschustern, das einfach nur OK ist. Das hätten wir ohne Probleme machen können - und hatten das sogar schon fertig. Aber wir haben es verworfen, weil uns das zu wenig war. Stattdessen veröffentlichen wir ein Album, das mit den besten aus unserem Katalog mithalten kann. Das war der Antrieb hinter diesem Album: das Beste aus uns herauszukitzeln, Spaß zu haben drei Monate lang richtig hart zu arbeiten - was ja kein Weltuntergang ist. Danach konnte jeder auf seine Weise entspannen. Mein Ansatz ist also, gute Arbeit zu erledigen. Das ist alles, was ich brauche - und das Einzige, was mich interessiert.
Gibt es etwas in ihrem langen, erfolgreichen Leben, das Sie bislang noch nicht probiert oder erlebt haben - aber gerne würden?
Jagger: So etwas wie eine Bucketlist?
Ganz genau.
Jagger: Nein, die habe ich nicht. Sorry. Und das soll jetzt nicht heißen, dass ich schon alles kenne. Es wird immer wieder Sachen geben, die ich gerne ausprobieren und versuchen würde - und es wäre ja auch schade, wenn das nicht der Fall wäre. Aber momentan genieße ich einfach den Herbst. Ich mag diese Jahreszeit.
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