Mannheim. Vier Alben lang hat Max Raabe jetzt Popmusik gemacht, nun kehrt der Bariton und Feingeist zumindest tonträgertechnisch wieder zu den Wurzeln zurück. Auf dem neuen Album „Mir ist so nach Dir“ singt sich der 60-Jährige, wie immer flankiert von seinem Palast Orchester, durch die oft heiter-ironischen, bisweilen auch nachdenklichen, Lieder der Weimarer Zeit. Zu den Höhepunkten zählen „Unter den Pinien von Argentinien“, „Erstens küss’ ich nicht“ oder das Titellied. Wir trafen den wie immer in Anzug, Hemd und Lackschuhen gekleideten Max Raabe im Hotel „Telegrafenamt“ in Berlin-Mitte.
Herr Raabe, Sie spielen in diesem Jahr knapp hundert Konzerte. Hatten Sie im Sommer ein bisschen Zeit zum Durchschnaufen?
Max Raabe: Ja, die hatte ich und war froh, meine Sommerferien in Berlin verbringen zu können und nicht auch noch privat reisen zu müssen. Und so habe ich bei jeder sich bietenden Gelegenheit meine Hängematte zwischen zwei Obstbäume gehängt.
Schlaucht das Reisen heute mehr als früher?
Raabe: Den Eindruck habe ich. Wie oft schon standen wir morgens am Bahnhof und mussten uns Geschichten anhören, warum der Zug wieder stundenlang verspätet ist oder überhaupt nicht fährt. Wenn wir mit dem Bus fahren, stehen wir im Stau, und in den seltenen Fällen, in denen wir den Flieger nehmen, fällt der dann aus. Das Tourneeleben ist tagsüber eine Herausforderung.
Es wird ja viel diskutiert, wie man die Infrastruktur auf Vordermann bringen könnte. Wo würden Sie anfangen?
Raabe: Da fragen Sie mal besser jemanden, der Ahnung von der Sache hat. Ich kann nur staunend beobachten, was alles schiefläuft. Aber ich hoffe, die Verantwortlichen begreifen so langsam, dass in Ländern wie Frankreich oder Spanien der Zugverkehr besser funktioniert als bei uns. Vielleicht muss man sich dort mal anschauen, was aktuell so der Standard ist in der Welt.
Zur Person: Max Raabe
- Frühe Jahre: Max Raabe wurde 1962 im westfälischen Lünen geboren. Später besuchte er ein katholisches Internat in Westfalen und war Messdiener. Erste Gesangserfahrungen sammelte er im Kirchenkinderchor seiner Heimatgemeinde. Mit 20 Jahren zog er nach Berlin, studierte Gesang. Er verließ die Hochschule der Künste als staatlich geprüfter Opernsänger.
- Aufstieg: 1986 gründete Raabe mit zwölf Kommilitonen das Palast Orchester. Nach erfolglosen Touren durch Berliner Kneipen kam der Durchbruch. Seit seinem Auftritt 1994 in der Filmkomödie „Der bewegte Mann“ mit dem Lied „Kein Schwein ruft mich an“ ist er fester Teil der deutschen Poplandschaft.
- Tonträger: Bisher hat Raabe ein 22 Studio- und sechs Livealben veröffentlicht. Gerade erst erschienen ist „Mir ist so nach Dir“ (Universal).
- Konzert: Am 11. Dezember im Mannheimer Rosengarten.
Ab wann wir ein Konzerttag für Sie angenehm?
Raabe: Schön wird das Leben ab 17 Uhr. Dann gibt es Essen. Wir haben eine eigene Küche dabei, auch einen eigenen Koch. Wir essen alle gemeinsam, das Orchester und die Crew, die alles auf der Bühne für uns vorbereitet.
Was steht so auf dem Speiseplan?
Raabe: Die tollsten Sachen. Leckere Salate mit Linsen zum Beispiel, auch für die Vegetarier und Veganer ist bei uns gesorgt.
Essen Sie Fleisch?
Raabe: Ja, aber tatsächlich immer seltener. Fleisch muss etwas Besonderes für mich sein. Zwischen Tür und Angel möchte ich kein Steak verputzen. Das gönne ich mir nur manchmal, aber dann genieße ich es sehr.
Ein Genuss ist auch das neue Album „Mir ist so nach Dir“. Es beinhaltet nach vier Platten mit Raabe-Pop-Songs nun wieder alte Lieder aus den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts. Und es kommt nur ein Jahr nach „Wer hat hier schlechte Laune“.
Raabe: Das hat sich so ergeben. Für die vierte Staffel von „Babylon Berlin“ schrieb ich ja gemeinsam mit Annette Humpe „Ein Tag wie Gold“, mit dem Palast Orchester trete ich in der Serie auch auf, und als die Dreharbeiten zu Ende waren, fragte man uns, ob wir nicht Musik machen wollen auf der großen Abschlussparty. Also haben wir dort für Stimmung gesorgt und auch ein Stück gespielt, das bei einer früheren „Babylon“-Folge als Original-Schellack-Aufnahme vorkam: „Mir ist so nach Dir“. Das war der Auslöser zu sagen, lasst uns doch mal wieder eine Platte mit dem Repertoire machen, mit dem wir angefangen haben, und das wir als Ergänzung zu den Pop-Nummern nach wie vor im Livekonzert spielen.
Manche der Songs habt ihr schon sehr lange im Programm, „Unter den Pinien von Argentinien“ zum Beispiel findet sich in einer ungefähr dreißig Jahre alten Aufnahme auf Youtube.
Raabe: Wir haben über 700 Titel im Programm. Manche kommen öfters zum Tragen, andere haben wir fast vergessen. „Mir ist so nach Dir“ hatten wir kaum noch auf dem Schirm, auch „Unter den Pinien von Argentinien“ haben wir bestimmt seit zwanzig Jahren nicht mehr auf der Bühne gebracht. Es macht natürlich Spaß, solche alten Schätze mal wieder zu heben.
Gucken Sie sich gerne die alten Videos an?
Raabe: Ich kann gar nicht schnell genug auf den Aus-Knopf drücken (lacht). Ich finde es manchmal ulkig zu sehen, wie sich die Stücke entwickelt haben, die wir damals gesungen und gespielt haben. Und auch, wie wir selbst uns verändert haben. Wir sind noch besser geworden (lacht).
Singen Sie heute anders als mit Ende 20?
Raabe: Ja. Als ich anfing, habe ich versucht, den Stil wie auf den alten Grammophon-Platten gesungen wurde, zu kopieren. Das hat mir irgendwann nicht mehr gefallen. Ich wollte einfacher, leichter und klarer in der Artikulation sein, nicht mehr so knarzig. Heute singe ich insgesamt erzählerischer.
Was begeistert Sie seit so vielen Jahren an dieser alten Musik?
Raabe: Die Virtuosität, die bei einigen Titeln aus der Weimarer Zeit verlangt wird. Hier kann sich das Orchester richtig ausleben. In der aktuellen Popmusik ist das so nicht mehr gefordert, heute geht es hauptsächlich um Beats.
Sie stecken mit einem Fuß in den Liedern von vor hundert Jahren, mit dem anderen selbst in der Popmusik. Ist das für Sie spannend?
Raabe: Absolut. Beides ergänzt sich sehr gut, wie ich finde. Wir spiegeln letztlich wider, wie sich die Unterhaltungsmusik von den Zwanziger Jahren des letzten bis zu den Zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts entwickelt hat.
Auch in politischer Hinsicht heißt es bisweilen, wir wären wieder zurück in den zwanziger Jahren…
Raabe: Ich hoffe nicht.
Haben Sie manchmal ähnliche Gedanken?
Raabe: Die Vergangenheit tut uns nicht den Gefallen, sich so zu wiederholen, wie wir es von ihr erwarten. Man muss wachbleiben und aufpassen, darf nicht schludern oder nachlässig werden. Zugleich leben wir in einem System, von dem unsere Großeltern nur hätten träumen können. Wir sollten bewahren, was wir an guten Dingen erreicht haben.
Sehen Sie sich in der Verantwortung, bei Konzerten die Leute darauf hinzuweisen, was wir an unserer Demokratie haben?
Raabe: Nein, das muss ich niemandem in meinem Publikum erklären. Außerdem möchte ich ja, dass die Leute während des Konzerts vergessen, was außerhalb in der Welt passiert. Unsere Musik ist dafür da, die Menschen aus der Realität zu reißen, und das ist auch meine grundlegende Aufgabe.
Grundlegendes Thema auf „Mir ist so nach Dir“ ist die Liebe in allen Facetten.
Raabe: Ja.
Ein Thema, das nie langweilig wird?
Raabe: Ehrlichgesagt geht es in der Musik doch immer nur um die Liebe. Ganz selten, dass mal etwas anderes zur Sprache kommt. Die Liebe ist der Kitt, der den ganzen Laden zusammenhält. Mal ist er frisch, mal bröselt es schon ein bisschen.
Gesellschaftlich hat sich in hundert Jahren viel getan, aber der Kern der Liebe ist und bleibt derselbe?
Raabe: Ganz bestimmt. Bei unserem Repertoire ist es allerdings so, dass Ironie viel häufiger anzutreffen ist als in der aktuellen Popmusik, wo sie kaum Platz findet. Auch in den Stücken, die ich selbst schreibe, versuche ich immer, kleinere Brüche und ein bisschen Augenzwinkern einzubauen.
Wenn ich Sie frage, ob Sie ein Fachmann in Sachen Liebe sind, schütteln Sie vermutlich den Kopf.
Raabe: Aber sowas von (lacht). Auch ich hatte in meinem Leben schon Kontakt zu der Liebe, aber ich scheitere daran, dass, was man dabei empfindet, in Worte zu fassen. In unseren Stücken machen wir die Tür auf für die Emotionen. Wir laden ein, aber wir erklären die Liebe nicht.
„Manche Männer haben immer Glück bei Frauen, mir gelingt es höchstens, einmal zuzuschauen“, singen Sie in „Erstens küss’ ich nicht“.
Raabe: Der Text ist nicht von mir, aber vom Humor her kommt er meinen Vorlieben nah. Ich merke immer wieder, wie sehr ich ihn wiederfinde in den Liedern der Weimarer Republik. Textdichter wie Fritz Rotter, Robert Gilbert oder Friedrich Hollaender sind drei Beispiele für Garanten, bei denen die Texte immer gut sind.
Woher haben Sie Ihren Humor?
Raabe: Von meinen Eltern. Mein Vater hatte einen sehr trockenen Humor. Er hat manchmal Witze gemacht, die wir erst am nächsten Tag begriffen und dann auch darüber gelacht haben.
Manche Formulierungen wie „süßes Mädel“ oder „süßes kleines Fräulein“, die in den 1920er Jahren gang und gäbe waren, würde man heute um die Ohren gehauen bekommen, wenn man sie in einem aktuellen Lied singen würde.
Raabe: Das stimmt. Man muss wissen, in welcher Zeit die Sachen entstanden sind. Damals hat man so gesprochen. Selbst vor zwanzig Jahren hatten wir diese Sensibilität noch nicht. Das ist sicher ein bisschen flapsig, aber man darf den Autoren von damals keine Böswilligkeit unterstellen. Alles von früher könnte man heute allerdings nicht mehr singen.
Die Sprache ist mittlerweile ein hypersensibles Minenfeld, zum Teil werden heute ganze Bücher umgeschrieben. Wie stehen Sie zu dieser Entwicklung?
Raabe: Ich finde diese Diskussionen manchmal ein bisschen zu aufgeregt, man könnte auch entspannter daran gehen. Prinzipiell ist die heutige Herangehensweise natürlich wichtig. Es gibt Worte, die schreibt oder sagt man heute einfach nicht mehr. Aber wenn wir die Vergangenheit löschen oder ignorieren, können wir uns auch nicht bewusst machen, was damals falschgelaufen ist.
Auch das Männlichkeitsbild ist im Wandel, starre Geschlechtergrenzen werden durchlässiger. Sie dagegen haben in jungen Jahren als Bühnenfigur bereits einen Klassiker geschaffen.
Raabe: Das ist richtig, bei meiner Bühnenchoreographie hat sich in dreißig Jahren nicht viel getan. Ich stehe da und singe, meine Arme hängen runter. Was soll man da verbessern? (lacht).
Modisch sind Sie eher konservativ. Auf der Bühne tragen Sie Frack, in der Freizeit keine Jeanshosen.
Raabe: Dennoch betrachte ich es mit Neugier und Interesse, dass Männer auch in Sachen Mode offener werden. Es ist wie mit allen Dingen: Zu machen Männern passen bestimmte Klamotten, zu anderen nicht. Einige sehen mit Zopf oder Schnurrbart klasse aus, bei anderen denkt man „Lass es“.
Was haben Sie sich bei Ihrem Stil gedacht?
Raabe: Nicht viel. Eine Freundin meinte mal zu mir, ich sei schon immer so gewesen. Das klingt vielleicht langweilig, aber ich habe nie versucht, cool zu sein oder mit irgendeinem Trend zu gehen. Ich habe das gefunden, was mir gefällt, und dabei bleibe ich.
Haben Sie Schnurrbart oder Zopf mal ausprobiert?
Raabe: Zopf garantiert nicht, aber bis gestern war ich unrasiert.
Denken Sie, Sie werden es noch als aktiver Musiker erleben, dass die Bahn pünktlich ist?
Raabe: Musik ist schön und macht mich froh. Ich kann mir nicht vorstellen, ohne Musik zu leben. Und solange mir das Spaß macht, mache ich weiter. Was die Bahn angeht, bin ich nicht ganz so zuversichtlich. Dort machen sie inzwischen sogar Durchsagen, wenn der Zug den Bahnhof tatsächlich einmal pünktlich erreicht. Alle im Abteil, und sogar der Zugchef selbst, lachen sich dann scheckig.
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