Filmfestival

"Grand IFFMH Award" für Regisseurin Lynne Ramsay in Mannheim

Die Fähigkeit, im Dunkeln zu sehen: Die Regisseurin Lynne Ramsay wird beim 73. Internationalen Filmfestival in Mannheim mit dem „Grand IFFMH Award“ ausgezeichnet. Das Festival zeigt drei eindrückliche Filme von ihr

Von 
Martin Vögele
Lesedauer: 
Joaquin Phoenix und Lynne Ramsay 2017 in Cannes. Die beiden arbeiteten beim Noir-Thriller „A Beautiful Day“ zusammen. © Arthur Mola/Invision/dpa

Mannheim.  Ein faszinierender Aspekt ihrer Filmkunst besteht darin, selbst aus tiefer Finsternis klare Konturen herauszuarbeiten. Uns mit ihren Augen diejenigen sehen zu lassen, die als dunkle Schemen im Schatten stehen, die Schuldige sind und Opfer, Getriebene, Verlorene und Vergessene. Lynne Ramsay ist eine schonungslos scharfsichtige Chronistin menschlicher, familiärer und gesellschaftlicher Abgründe und als solche - wie auch hinsichtlich ihres filmästhetischen Vermögens - eine Ausnahmeerscheinung des zeitgenössischen Kinos.

Beim 73. Internationalen Filmfestival Mannheim-Heidelberg wird die schottische Regisseurin und Drehbuchautorin nun mit dem „Grand IFFMH Award“ geehrt. Vor ihr hatten Guillaume Nicloux (2021), Alice Winocour (2022) und zuletzt Nicolas Winding Refn die mit 10 000 Euro dotierte Auszeichnung erhalten, mit der das Festival Filmemacherinnen und Filmemacher der Gegenwart „für ihre eigene, stilprägende Vision von Kino“ auszeichnet.

Mehr zum Thema

Filmfestival

Revolution verschlingt ihre Kinder

Veröffentlicht
Von
Martin Vögele
Mehr erfahren
Filmfestival

Film "Sharp Corner": Wendungsreiche Perspektiven eines Leben eröffnen das Filmfestival

Veröffentlicht
Von
Thomas Groß
Mehr erfahren
Interview

Sascha Keilholz über das 73. Internationale Filmfestival in Mannheim-Heidelberg

Veröffentlicht
Von
Thomas Groß
Mehr erfahren

Ramsay, Jahrgang 1969, hat diese Vision in mehreren Kurz- sowie bislang vier Langfilmen mit dem Publikum geteilt. Letztere sind „Ratcatcher“ (1999), „Movern Callar“ (2002), „We Need to Talk About Kevin“ (2011) und schließlich, 2017, „A Beautiful Day“ (Originaltitel: „You Were Never Really Here“). Bei all diesen Produktionen schrieb sie auch selbst, allein oder in Co-Autorenschaft, das Drehbuch. Vier Filme scheinen, in Anbetracht einer immerhin mehr als 25 Jahre umspannenden Karriere, erstaunlich wenige zu sein. Aber sie alle stehen wie cineastische Skulpturen in der Filmlandschaft - als kaleidoskopische Kunstwerke, die aus Bildkomposition, Drehbuch, Schauspiel und Musik geformt wurden, und in denen sich wiederkehrende Kernmotive wie Kindheit und Familie, Tod und Trauer oder der Verlust von Unschuld spiegeln.

Kurzfilm-Preis beim Filmfestival in Cannes

Lynne Ramsay wuchs in der schottischen Arbeitermetropole Glasgow auf, schulte ihr Auge erst bei einem Kunst- und Fotografie-Studium in Edinburgh, später studierte sie Kamera und Regie an der National Film and Television School in Beaconsfield bei London. Schon ihr Abschlussfilm „Small Deaths“ wurde 1996 auf dem Filmfestival von Cannes gezeigt - und dort auch mit dem Kurzfilm-Preis der Jury ausgezeichnet.

Drei Jahre später debütierte sie mit einem Spielfilm, der einen bereits mit seiner durchdringenden Intensität in den Bann zog: In „Ratcatcher“, gefilmt in Schwarzweiß, erzählt Ramsay vom zwölfjährigen James (William Eadie), der in der Trostlosigkeit einer Arbeitersiedlung im Glasgow der 1970er Jahre aufwächst, zwischen Müll und Gewalt - und schlägt dabei dennoch zarte Poesie-Funken.

Lynne Ramsay

  • Die schottische Regisseurin, Autorin und Kamerakünstlerin Lynne Ramsay wurde 1969 in Glasgow geboren. Sie studierte Kunst und Fotografie am Napier College in Edinburg sowie Kamera und Regie im englischen Beaconsfield.
  • Beim 73. Filmfestival Mannheim-Heidelberg erhält Ramsay am 9. November, 18 Uhr, im Mannheimer Stadthaus N1 den „Grand IFFMH Award“. Danach wird „A Beautiful Day“ gezeigt.
  • Außerdem sind beim Festival „Ratcatcher“ und „We Need to Talk about Kevin“ zu sehen. Nach der „Ratcatcher“-Vorführung am 10. November, 12.15 Uhr, im Heidelberger Karlstorbahnhof führt Ramsay ein „Masterclass“-Gespräch.
  • Infos: www.iffmh.de.

Bei „Movern Callar“ - eine suggestive Kontemplation über Verlorenheit und Bedeutungssuche einer jungen Frau, die nach dem Selbstmord ihres Partners durch die Leere ihres Lebens treibt - arbeitete sie mit einer grandiosen Samantha Morton in der Titelrolle.

In Cannes erhielt der Film 2002 den „Award of the Youth“-Nachwuchspreis als bester ausländischer Film; Morton wurde bei den British Independent Film Awards ausgezeichnet. Ramsays Karriere blieb gleichwohl nicht frei von Rückschlägen, so kam etwa die seit Anfang der 2000er geplante und über Jahre verfolgte Hollywood-Inszenierung des Bestseller-Romans „The Lovely Bones“ durch sie nie zustande. Am Ende sollte „Der Herr der Ringe“-Regisseur Peter Jackson die Regie übernehmen.

Dann aber sorgte sie mit dem vielschichtigen Horror-Psychogramm „We Need to Talk About Kevin“ für Furore, das gleichfalls in Cannes Premiere feierte. Hauptdarstellerin und Oscar-Preisträgerin Tilda Swinton erhielt für ihre brillant feinnervige Darstellung der Mutter eines psychopathisch-diabolischen Sohnes (verkörpert von Ezra Miller) den Europäischen Filmpreis von 2011.

Mit einer anderen singulären Erscheinung in Sachen Schauspielkunst arbeitete Ramsay einige Jahre später zusammen: Joaquin Phoenix, 2020 mit dem Oscar als Bester Darsteller für seinen in den Wahnsinn taumelnden „Joker“ ausgezeichnet, spielte 2017 im Noir-Thriller „A Beautiful Day“ einen an Körper und Seele gezeichneten Auftragskiller, der - buchstäblich - einen Mädchenhändlerring zerschlägt.

Ramsay kleidet Gewalt, Schmerz und die Sehnsucht nach Erlösung in ausdrucksstarke, hochgradig narrative, immer wieder in Details versunkene Bilder. Auch hier zeigt Ramsay, was sonst im Dunkeln verborgen bliebe - und macht daraus: große Filmkunst.

Freier Autor

Copyright © 2025 Mannheimer Morgen

VG WORT Zählmarke