Mannheim. Es gibt diese Abende, die dazu vorherbestimmt sind, etwas zu werden, was sie unter normalen Umständen niemals hätten sein können. An - beziehungsweise vielmehr vor - der Alten Feuerwache in Mannheim gab es am Sonntag genau so einen Abend zu bestaunen, der sicher viel war, aber nicht normal. Denn der Multi-Genrekünstler David Julian Kirchner bringt vor heimischem Publikum nicht nur seine aktuelle Platte „IG Pop“ auf die Bühne, sondern formt sein Liedgut gleichsam zu einer Form des Protests.
David Julian Kirchner auf der Sommerbühne in Mannheim
Das lampionilluminierte Nest vor der Feuerwache scheint in diesen Stunden geradezu prädestiniert für Parolen dieser Art, denn auch, wenn die Sonne sich längst von diesem späten Sonntag verabschiedet hat, fließen die Säfte in der Gluthitze der Dunkelheit fast schon ohne jede Regung. Wenn sich die schwitzende Bewältigung ohnehin nicht vermeiden lässt, warum sie nicht gleich einem guten Zweck widmen?
Kirchner und die Seinen jedenfalls rechtfertigen diese Mühe fast schon spielerisch. Einerseits, weil allein melodisch-lyrisch Stoffe zwischen Klassenkampf und politischer (Un)Korrektheit verhandelt werden. Die driften wahlweise in Richtung Indie, stellenweise aber auch in Richtung Chanson, ohne dabei nur und ausschließlich schroffe Avantgarde sein zu wollen.
Und schließlich - die Revolution
Andererseits, weil zwischen der ästhetisierten Pop-Gigantomanie von Kirchner Hochtief und dem Art Sound-Kollektiv Torso derart vieles aus dem bisherigen Lebenswerk des 40-jährigen Wahl-Mannheimers in dieser Protest-Gewerkschaft in Tönen aufgeht, dass plötzlich alles Sinn zu ergeben scheint: die gefühlte Perspektivlosigkeit, der Schmerz darüber, die Ästhetik als Anpeitscher und Heilmittel und schließlich - die Revolution. Vielleicht ist das tatsächlich die große Kunst dahinter: Dass Kirchner der Bundesrepublik ihr „Leichentuch“ vor Augen hält, aber doch an ihr Leben glaubt, die Einsicht in notwendige, auch radikale Änderungen vorausgesetzt.
Frei nach dem Motto: Totgesagte leben länger, wenn sie denn endlich zu leben verstehen. Der Drive und Wille kommt dabei so berückend daher, dass er zum Tanzen animiert, im Publikum Kräfte wachruft, Lust und Laune inkludiert und, ja, auch so etwas wie Entfesselung mit sich führt. Kirchners Klangkunst ist gerade deswegen nicht als Remix kommunistischer Klassenkampf-Konvolute zu verstehen. Sie liefert vielmehr eine Analyse des Ist, verbunden mit der Frage, was werden mag - ausdrücklich mit offenem Ausgang.
„Bella Ciao“ mit Thekenchor
So verfällt auch die Zuhörerschaft weder in Depressionen noch in falsche Euphorie. Stattdessen ist die „IG Pop“ vielmehr als Appell für ein Werden zu lesen, das jedoch bereits so intensiv gefeiert wird, dass das anschließende Sein reine Formsache zu werden scheint. Als der aus bereitwilligen Bürgern geformte Thekenchor gemeinsam mit Kirchner und seiner Akustikgitarre ein beseeltes „Bella Ciao“ anstimmt, wirkt das wie ein mittelalterlicher Bänkelsang, der mit großer Poesie von seiner eigenen Schönheit kündet, dabei aber energisch zum Besseren anstiften will. Eine Mischung, wie sie treffender kaum daherkommen könnte. Die Begeisterung gen Ende jedenfalls scheint grenzenlos.
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