Das Interview

Bachchor-Chef: „Wir müssen uns mehr mit Werten beschäftigen“

Im Interview spricht Badens stellvertretender Landeskirchenmusikdirektor und Bachchor-Chef Johannes Michel über die Probleme der Chorszene nach Corona, über Publikumsschwund und die falsch gesetzten Prioritäten der Gesellschaft

Von 
Stefan M. Dettlinger
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Als Kirchenmusiker einer der vielseitigsten: Chorleiter, Landeskirchenmusikdirektor, Komponist und Professor an der Musikhochschule Mannheim. © Oliver Otto

Herr Michel, Corona scheint weitgehend überstanden. Wie haben Ihre Chöre an der Christuskirche überlebt?

Johannes Michel: Ob Corona überstanden ist, kann ich nicht sagen, aber wir hatten tatsächlich große Probleme, denn das Singen und der Aufenthalt von mehreren Personen in einem Raum war ja teilweise ganz untersagt, das macht aber eine Chorprobe aus. Wir haben in dieser Zeit zwei Dinge gemacht. Zum einen haben wir mit jedem Chor der Christuskirche zum normalen Termin eine Probe per Zoom angeboten. Zum anderen haben wir Notenmaterial per Video an alle Chöre geschickt und zu diesen Stücken Übungsvideos hochgeladen. Dieses Repertoire wurde dann am Sonntag im Gottesdienst nach einer Verständigungsprobe mit den vorgeschriebenen Abständen mit den vorgeschriebenen Abständen musiziert.

Sind die Chöre nun dezimiert?

Michel: Ja, wir haben Chorsängerinnen und -sänger verloren, vor allem bei den Erwachsenen. Aber da wir bis 2020 so ausgesprochen große Chöre hatten, sind wir jetzt auf ein gesundes „Normalmaß“ gekommen – es kamen einfach weniger Neue in dieser Zeit hinzu als sonst. Im Kinderchorbereich haben wir zum Glück wieder die alte Stärke erreicht.

Wie beobachten Sie als Landeskirchenmusikdirektor die Chorszene insgesamt?

Michel: Im Grunde ist es ein einheitliches Bild. Alle Chöre, die vor 2020 schon einen guten Altersmix hatten und während der Lockdown-Zeiten aktiv geblieben sind, machen auf hohem Niveau weiter. Alle anderen haben große Schwierigkeiten oder haben sich leider schon aufgelöst.

Das würde doch eigentlich bedeuten: Der Mensch singt gern wie eh und je, oder?

Michel: So ist es. Die Einbrüche bei den Zuhörern sind viel stärker, das haben wir bei der Bach’schen h-Moll Messe neulich mit dem Bachchor Mannheim wieder bestätigt gefunden. Wir hatten ein sehr begeistertes Publikum, das auch den Raum durchaus „füllte“. Aber wenn man genau hinsieht, waren es doch eher knapp die Hälfte an Besucherinnen und Besuchern, die wir vor 2020 bei einem solchen Konzert hatten. Damit liegen wir gar nicht so schlecht, wenn ich die Kolleginnen und Kollegen so höre, aber es reißt uns natürlich Löcher in die Finanzierung, das wird auf die Dauer nicht einfach.

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Das Publikum wird auch immer älter. Was wollen Sie tun, um jüngere Menschen anzusprechen?

Michel: Wir versuchen ganz regelmäßig durch ungewöhnliche Kombinationen, Menschen auf unsere Kirchenmusik neugierig zu machen, ihnen einen Zugang dazu zu verschaffen. Ich denke da an die neue CD meiner Kollegin Marion Krall „Magic Music Box“, die am Wochenende vorgestellt wird und auf der ganz frappierende Orgelmusik zu hören ist. Oder beim kommenden Orgelfeuerwerk an Silvester werde ich James-Bond-Filmmusik spielen.

So etwas machen Sie?

Michel: Ja, denn das klingt großartig. Letztlich ist es natürlich unsere Hauptaufgabe, einen kulturellen und geistlichen Schatz zu pflegen und in die Zukunft zu tragen: die Kirchenmusik. Das geschieht durch die Aufführungen der unerschöpflichen Meisterwerke der Vergangenheit und durch neue Kompositionen und Stile. Aber wir sind darauf angewiesen, dass wir noch Menschen mit diesen Sprachen erreichen und nicht alles den kommerziellen Aspekten der Spaßgesellschaft opfern müssen. Dazu ist Bildung hilfreich, die können wir alleine allerdings nicht schaffen.

Johannes Michel

  • Johannes Michel, geboren 1962, wuchs in Gaienhofen am Bodensee auf. Nach Studien in Basel, Heidelberg, Frankfurt und Stuttgart hatte er die A-Prüfung in Kirchenmusik und 1992 das Solistenexamen bestanden.
  • Von 1999 bis 2021 war er Landeskantor Nordbaden, heute ist er stellvertretender Landeskirchenmusikdirektor der Badischen Landeskirche und seit 2012 Professor an der Musikhochschule Mannheim.
  • Michel ist auch als Komponist geistlicher Werke bekannt.

 

Sie sprechen die Politik an? Die Medien?

Michel: Das ist vielleicht auch eine politische Aufgabe, im weitesten Sinn meine ich, denn es geht uns alle an. Denken Sie nur an den Satz von Nikolaus Harnoncourt, der nicht ganz unrecht hatte, wenn er meinte: „Es geht darum, Kinder zu besseren Ameisen heranzuziehen. In der ganzen Welt geht es nur noch um Produktionsprozesse, die Finanzwirtschaft hat die Herrschaft erobert, und die PISA-Studie ist ihr Instrument. Ich halte das für verbrecherisch. Dass die Kultur in diesem System keinen Platz mehr hat, überrascht mich nicht.“

Auf der anderen Seite brüsten sich aber doch Politikerinnen, vor allem im Bund und Land, damit, dass sie es immer schaffen, die Kulturausgaben zu erhöhen …

Michel: Das kann ich so pauschal nicht bewerten, da müsste man über konkrete Dinge sprechen.

Als Journalist stolpert man gefühlt einmal pro Jahr über die Erfolgsmeldung aus dem Bundeskanzleramt, dass die Kulturstaatsministerin Ihren Etat wieder mal erhöht bekommen hat …

Michel: Dann muss man hinschauen, wofür das Geld gedacht ist, und ob es auch dort ankommt. Das kann ich leider nicht leisten.

In Kirchenchöre oder Musikunterricht an Schulen wird es jedenfalls nicht investiert. Eher in die Film- und Medienwelt …

Michel: Das nützt uns für die Aufführung einer h-Moll-Messe nichts. Da brauchen wir musikalisch sehr gut vorgebildete Amateure und rezeptionsfähige Hörerinnen und Hörer.

Da sind wir wieder bei der Bildungspolitik. Thomas Quasthoff hat mir mal gesagt, er sei schockiert, dass heute Erzieherinnen und Erzieher und auch Lehrende in Grundschulen nicht mehr Singen würden, weil sie es auch beim Studium nicht als Fach haben. Das scheint schon ein Hauptproblem zu sein: Das Singen ist für junge Menschen kein natürliches Ausdrucksmittel mehr. Die lassen heute ihr iPhone singen.

Michel: Ich glaube, Singen ist und bleibt ein wesentliches Ausdrucksmittel menschlichen Seins. Quasthoff hat zwar mit seiner Beobachtung Recht, aber sie weist nur auf die Spaltung unserer Welt hin, denn es gibt auf der anderen Seite viele Singschulen und Kinderchöre. Wir haben zur Zeit hier in der Gemeinde sechs Kinderchorgruppen mit fast 60 Kindern.

Aber dann ist doch alles gut, müssten die Singenden von heute doch das Publikum von morgen sein …

Michel: Müssen nicht, von mir aus können auch alle singen, dann singt die ganze Kirche oder der ganze Konzertsaal das Werk, wäre doch klasse, oder?

Ja, das wäre schön, dagegen spricht aber schon die Lage in den Kirchen. Aber was würde denn die Situation der Chöre maßgeblich verbessern. Was müsste passieren?

Michel: Wir brauchen ein kulturelles und davon abgeleitet auch ein politisches Klima, in dem Menschen angeregt werden, sich wieder mehr mit Werten zu befassen, die zwar etwas Zeit und Mühe erfordern, aber eine innere Nachhaltigkeit, ein inneres Wachstum ermöglichen. Dann wird es auch der Chormusik auf breiter Fläche gut gehen.

Ressortleitung Stefan M. Dettlinger leitet das Kulturressort des „MM“ seit 2006.

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