Mannheim. Hans Alois Dresel ist 72 - er gehört aber nicht aufs Altenteil, wie seine Mitkicker wissen. „Eisenhans“ erweist sich donnerstags beim Hallenfußball in Mannheim als Allzweckwaffe: Im Tor hält er den Kasten dicht, und auf dem Feld gehört der Hackentrick zu seinem Repertoire. Wenn ein Spieler umknickt, schaut Dresel, ob ein Krankenwagen nötig ist, denn der Facharzt für Innere Medizin kennt sich auch mit Sportverletzungen aus.
Gute Leute fehlen überall
Dresel fällt aber nicht nur auf dem Fußballfeld wegen seines Alters aus dem Rahmen. Auch beruflich ist der sozialmedizinische Gutachter bei der Bundesagentur für Arbeit in Mannheim, Ludwigshafen und Heidelberg noch immer aktiv. Mit 67 ging er zwar offiziell in Rente, unterschrieb aber gleichzeitig einen Anschlussvertrag als freiberuflicher Arzt. „Am Anfang habe ich zwei, drei Tage in der Woche gearbeitet, inzwischen sind es fünf bis sechs“, sagt Dresel.
Der Hauptgrund dafür ist Corona. „Es fehlen seitdem Ärzte, für meinen Job braucht man außerdem viel Spezialwissen und Erfahrung.“ Deshalb kann sich der Schriesheimer vor Aufträgen nicht retten und macht in Oliver-Kahn-Manier immer weiter. Stand heute bis 75. Aber wer weiß, ob dann auch wirklich Schluss ist. „Ich muss ja nicht wie ein Dachdecker körperlich arbeiten.“
Wir haben an allen Ecken und Enden auch einen großen Mangel an Arbeitskräften, weil immer mehr Babyboomer in Rente gehen.
Seit Corona sind nicht nur erfahrene Ärzte Mangelware. Gute Leute werden in allen Branchen und für alle Tätigkeiten gebraucht. Und dann ist da noch der demografische Wandel. „Wir haben an allen Ecken und Enden auch einen großen Mangel an Arbeitskräften, weil immer mehr Babyboomer in Rente gehen“, sagt Ökonom Eckard Janeba von der Mannheimer Universität.
Dem früheren Jugendwahn auf dem Arbeitsmarkt weicht deshalb langsam die Erkenntnis, dass Deutschland auch die Silberrücken in der Berufswelt noch gut länger brauchen könnte. Denn von den etwa 21 Millionen Rentnern arbeiteten nach Angaben der Deutschen Rentenversicherung Ende 2021 nur rund 1,25 Millionen.
„Älteren sollten attraktive und flexible Wege eröffnet werden, um über den Ruhestand hinaus länger im Erwerbsleben bleiben zu können“, forderte die Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI) in ihrem Jahresgutachten. Die Expertinnen und Experten - Irene Bertschek vom Mannheimer ZEW ist EFI-Vizevorsitzende - schlagen zum Beispiel befristete Verträge für Ruheständler vor. Bei ihnen sei ein besonderes Schutzbedürfnis nicht erkennbar.
Anreize oder Zwang?
Nur: Wer hat überhaupt Lust, länger zu arbeiten? „Man kann nicht einfach Leute zurückholen, die der Arbeitgeber Jahre zuvor in die Altersteilzeit gedrängt hat. Diese Menschen fühlen sich dann entwertet und sind nicht mehr motiviert“, sagt Dresel. Andere wiederum würden aus Frust direkt aus dem Job in die Frührente fliehen. Und dann gibt es auch Menschen, die im Alter nicht mehr fit genug sind.
Wenn du ein kaputtes Kreuz hast, geht bei vielen halt nichts mehr
„Die Menschen sind gesünder und hinfälliger zugleich. Wenn du ein kaputtes Kreuz hast, geht bei vielen halt nichts mehr“, fasst Dresel seine Erfahrungen als Gutachter zusammen. Klar ist, dass der vermehrte Einsatz von Älteren eine Stellschraube ist, die neben der Zuwanderung und der Erhöhung der Teilzeitquote von Frauen das Angebot an Arbeitskräften erhöhen soll. Über das Wie sind sich die Experten aber uneins - Anreize oder Zwang, das ist die Frage.
Ökonom Janeba sorgte zum Beispiel im vergangenen Jahr mit seiner Forderung nach einer längeren Lebensarbeitszeit - Stichwort Rente mit 70 - für Wirbel. Das lehnen nicht nur die meisten Beschäftigten und die Gewerkschaften ab. Für eine gesetzlich verordnete Anhebung des Renteneintrittsalters gibt es auch keine politische Mehrheit in Deutschland. Außerdem dürften ältere Arbeitnehmer, die länger im Betrieb bleiben müssen, nicht unbedingt jeden Morgen mit vollem Tatendrang zur Arbeit gehen.
Zusätzlich zur Motivation kann natürlich auch das liebe Geld für Rentner ein Anreiz sein. „Für die Enkelkinder ist es ja nicht unattraktiv, wenn der Opa Geld verdient und die Spendierhosen anziehen kann“, sagt Dresel. Weil der Pensionär die Regelaltersgrenze erreicht hat, bleibt seine Rente ungekürzt, er kann unbegrenzt hinzuverdienen. Frührentner konnten dagegen vor der Pandemie nur 6300 Euro im Jahr ohne Kürzung ihrer Altersbezüge verdienen. Höhere Einkommen wurden zu 40 Prozent angerechnet.
Wegfall der Hinzuverdienstgrenze
In der Pandemie hob der Gesetzgeber den Freibetrag auf üppige 46 060 Euro an. Und seit Jahresbeginn können alle Rentner in Deutschland unbegrenzt hinzuverdienen. „Durch die damit einhergehende Flexibilität beim Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand kann ein Beitrag geleistet werden, dem bestehenden Arbeits- und Fachkräftemangel entgegenzuwirken“, heißt es in dem Gesetz.
Ob die kräftige Anhebung und die anschließende Kappung der Hinzuverdienstgrenze mehr Frührentner dazu animiert haben weiterzumachen, lässt sich statistisch leider noch nicht abschätzen. Die Deutsche Rentenversicherung hat dazu noch keine aktuellen Zahlen. Ende 2021 war jedenfalls kein positiver Effekt ablesbar. Das kann natürlich auch daran liegen, dass viele Frührentner noch nicht über die Änderungen Bescheid wussten. Neuere Zahlen gibt es nicht. Von den 205 000 Beziehern einer vorgezogenen Altersrente waren 2021 jedenfalls mit 161 000 das Gros als Minijobber tätig. Nur 54 000 standen in einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis.
Individueller Plan wichtig
Gutachter Dresel kann sich vorstellen, dass die Zahl der Rentner, die freiwillig weiter arbeiten wollen, steigen wird. Doch Voraussetzung dafür wäre nach seiner Ansicht, dass die Pensionäre bei ihrer Entscheidung nicht allein gelassen werden. „Im Prinzip müssten sich Arbeitnehmer, Arbeitgeber, Betriebsrat, die Bundesarbeitsagentur und die Rentenversicherung schon fünf bis zehn Jahre vor dem Rentenbeginn zusammensetzen und einen individuellen Plan erstellen“, sagt Dresel. „Das Ergebnis sollte ergebnisoffen sein. Kann sein, dass die Akteure eine frühere Verrentung für sinnvoll halten, kann aber auch sein, dass die Bundesagentur meint, sie würde den Bauarbeiter zum Kundenberater umschulen oder ihm eine andere Tätigkeit anbieten.“
Bei den Unternehmen ist die Interessenlage nach Dresels Einschätzung unterschiedlich. Kleine Handwerksbetriebe hätten eher Interesse daran, dass ihre Leute länger bleiben. „Die BASF als großer internationaler Konzern leidet dagegen nicht so sehr unter dem Fachkräftemangel. Die zahlt dem Schichtarbeiter dann lieber eine Abfindung, die er zusätzlich zum Arbeitslosengeld bekommt, das die Zeit bis zur Rente überbrücken soll“, sagt Dresel.
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