Eigentlich will Rainer Bauer nach dem Abendessen nur noch die Kaffeemaschine in seinem Bus startklar machen, als er sich auf den Weg in sein Brüsseler Hotel begibt. Kurz nach Verlassen des Restaurants begegnen ihm 30 oder 40 Polizisten „in kompletter Montur“, wie er es nennt. Also mit Helm, Schutzschild, kugelsicherer Weste. Die Beamten lassen ihn passieren. Warum auch nicht? „Ich habe ja eine Krawatte getragen und sah nicht aus wie ein Terrorist“, witzelt der 62-Jährige rückblickend. In jenem Moment ahnt er also noch nicht, was wenig später passieren wird, was er erleben muss.
„Woher sollte ich denn wissen, dass Marokko bei der WM gegen Spanien spielt?“, fragt er. Vor einer Woche wusste es Bauer tatsächlich nicht. Nun schon. „Mit Fußball habe ich doch nichts am Hut.“ Zumindest nicht mehr. Nach der EM 1996 holte er die deutsche Fußball-Nationalmannschaft mit dem Titel im Gepäck direkt vom Rollfeld des Frankfurter Flughafens ab. Eine andere Zeit, die lange zurückliegt. Seine neue Leidenschaft heißt Handball. In Diensten des Bibliser Reisebüros Müller lenkt der Südhesse den Mannschaftsbus der Rhein-Neckar Löwen.
In Brüssel ist er aber mit einer Studentengruppe aus der Pfalz unterwegs. Aber eben mit dem edlen Fahrzeug der Bundesliga-Handballer.
Am Abend vor der Abreise aus Belgien lässt Bauer also die Polizisten hinter sich. Er denkt sich weiterhin nichts Böses. Auf dem Rückweg Richtung Hotel bringt er wie geplant noch die Kaffeemaschine im Bus auf Vordermann. Es sieht nach einem normalen Feierabend aus. Doch der Schein trügt. Denn ab diesem Zeitpunkt läuft plötzlich nichts mehr normal. Es bricht Chaos aus, die Lage „eskaliert“, wie Bauer es nennt - auch wenn er das nicht sofort, sondern erst wenig später so richtig realisiert.
Zunächst hört er nur „ganz tiefe, ganz harte Schläge“. So wie bei Kanonen. Der ganze Bus habe aufgrund der Druckwellen vibriert, berichtet der 62-Jährige, der in diesem Augenblick aber immer noch nichts Schlimmes befürchtet. Im Gegenteil. „Nikolaus, 6. Dezember. Ich dachte mir, da haben immer schon viele Paare geheiratet.“
Bauer dachte falsch. Er sieht in diesem Moment aber auch nicht, was links von dem Bus passiert. Ein Bauzaun versperrt die Sicht. Bis er fällt. Oder besser gesagt: niedergerissen wird - von marokkanischen Fußballfans. „Und dann ging es los.“
Hunderte, vielleicht sogar mehr als 1000 Menschen stürmen über die Straße. Sie wollen feiern, weil die Marokkaner bei der WM gegen Spanien gewonnen haben. Doch was sie tun, hat nichts mit einer Feier zu tun. Sie werfen Gegenstände, zünden einen in der Nähe stehenden Container an. Und Bauer? Der steht mittendrin. Wenn auch geschützt in seinem Bus, an dem die enthemmte Meute vorbeizieht.
Der 62-Jährige löscht alle Lichter, verhält sich ruhig, beobachtet das Geschehen. Doch plötzlich wackelt der Bus. Wieder hört Bauer die ganz tiefen, ganz harten Schläge. „Erst da habe ich gemerkt, was hier los ist.“ Hat er in diesem Moment Angst oder Sorgen? „Beides.“
„Dachte, die zünden den Bus an“
Auf einmal zerbricht Glas, die Heckscheibe am Bus ist kaputt. Eingeworfen von einem Gegenstand. Mit der Handytaschenlampe in der Hand macht sich Bauer vorsichtig auf den Weg in den hinteren Teil seines Busses. Überall liegen Scherben. „Die werden mich noch eine ganze Zeit lang verfolgen“, mutmaßt er. Denn die kleinen Splitter sind überall. Auch in den Heizungsschächten. Als er aufblickt, sieht der 62-Jährige ein etwa 15 Zentimeter großes Stahlteil „oberhalb der Kopfstütze“. Wenn dort jemand gesessen hätte...
„Ich fahre seit 40 Jahren Bus. Aber so etwas habe ich noch nie erlebt. Wann hört dieser Fußball-Wahnsinn endlich auf? Das gibt es in keiner anderen Sportart. Ich wusste nicht, wie mir geschieht“, schimpft Bauer, für den sich in diesen schlimmen Minuten alles wiederholt. Erneut hört er die ganz tiefen, ganz harten Schläge. Wieder wackelt der Bus.
„Ich dachte, die schmeißen den um und zünden ihn an.“ Doch wieder zerbricht „nur“ eine Scheibe - jetzt an der linken Seite. In diesem Augenblick sieht er aber auch, dass Rettung in Sicht ist. Polizisten sind vor Ort. Links neben dem Bus stehen die Fahrzeuge, rechts die Einsatzkräfte. „Da bin ich dann mal raus. Wahrscheinlich haben die sich erst mal gefragt, wo ich denn herkomme“, sagt Bauer, der trotz des schlimmen Erlebnisses seinen Humor nicht verloren hat, auch wenn ihn das Erlebte nachdenklich stimmt: „Wir sehen immer Bilder vom Krieg in der Ukraine. Das ist mindestens zehnmal schlimmer als das, was in Brüssel passiert ist. Man kann sich das nicht vorstellen.“
Metallgegenstand in Kopfhöhe
Als sich die Lage beruhigt, klebt der Busfahrer bis tief in die Nacht die beschädigte Heckscheibe ab. Sechs Löcher zählt er, mit seinem Flickwerk will der Südhesse trotzdem keinesfalls zurück nach Deutschland reisen: „Nicht zu verantworten.“
Hilfe gibt es am nächsten Tag 18 Kilometer weiter bei einer Werkstatt. Den Weg dorthin legt Bauer gefühlt im Schritttempo zurück: „Ich bin gefahren, als wenn ich hochexplosives Material transportiere.“ In weitem Bogen um die Gullydeckel, vorsichtig über Bodenwellen. „Und immer mit den Gedanken: Gleich macht es ‚Klatsch’ und meine Heckscheibe liegt auf der Straße.“ Liegt sie aber nicht. Bauer kommt ohne weitere Schäden in der Werkstatt an. Dort wird eine riesige Folie über die Scheibe geklebt - und der Heimreise steht nichts mehr im Weg.
Mittlerweile ist der Bus wieder komplett repariert. Am Sonntag fährt der 62-Jährige die Löwen zur Partie in Wetzlar. Und geht es für ihn auch noch einmal nach Brüssel? „Wenn Marokko nicht spielt, dann immer wieder gerne.“
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