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Tiefer Graben zwischen Schottland und Großbritannien

Knapp zwei Wochen vor Beginn der Fußball-EM in Deutschland blicken wir auf die deutschen Gruppengegner. Den Anfang macht Schottland, das den Austritt Großbritanniens aus der EU noch nicht verdaut hat

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Lothar Leuschen
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Schottland wäre gerne in der EU geblieben. © dpa/Christoph Soeder

Es ist ruhig geworden um Schottland, seit Nicola Sturgeon im vergangenen Jahr von ihren Ämtern in der schottischen Politik zurückgetreten ist. Die ehemalige Regierungschefin beendete damit eine Zeit der politischen Unruhe, der Skandale. Es ging um Gendern, es ging um den Umgang mit einem Fall von sexuellen Übergriffen, es ging letztlich darum, dass ein Vergewaltiger vorübergehend in einem Frauengefängnis inhaftiert war, nachdem er sich selbst als transsexuell bezeichnet hatte. Turbulente Zeiten, seltsame Themen im Angesicht eines Krieges in Europa.

Tiefer Graben zwischen London und Edinburgh

Aber Schottland ist nur Schottland, nur ein Teil im Staatenbund Großbritannien, nur ein Land unter der Regentschaft von König Charles. Auch das mag dazu beigetragen haben, dass Nicola Sturgeon sich mit erst 53 Jahren in die zweite politische Reihe zurückgezogen hat.

Regierungschef in Schottland: John Swinney. © dpa

Ihr großes Ziel jedenfalls ist in weite Ferne gerückt. Sturgeon wollte nicht aus der Europäischen Union austreten, die Schotten wollten es auch nicht. Sie wollte aus Großbritannien austreten. Doch das Referendum scheiterte im Jahr 2014 an rund 380 000 Stimmen, die sich gegen die Unabhängigkeit aussprachen. Und dann verließ Großbritannien nach einer hauchdünnen Entscheidung die Europäische Union - inklusive der Schotten.

Selten war der Graben zwischen Schottland und Großbritannien größer, selten haben sich so viele Schotten so gegängelt gefühlt. Aber alles half nicht. Das britische Parlament und die britische Justiz haben Bestrebungen einen Riegel vorgeschoben, einen Anlauf zur Rückkehr in die EU zu unternehmen, in dem Schottland sich aus dem Königreich verabschiedet. „Das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt“, sagte die Ex-Regierungschefin Theresa May von den Konservativen damals.

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Lars Müller-Appenzeller
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Wann die richtige Zeit sein wird, ob überhaupt jemals, steht in den Sternen. Und in Sturgeon hat Schottland eine treibende Kraft verloren, die das Land im Kreise der Europäischen Union sieht und nicht als Wurmfortsatz im britischen Empire.

Die Schotten können mit dem Königreich schon lange nicht mehr allzu viel anfangen. Großbritannien ist London, London ist England, dort spielt die Musik, alles andere ist aus Sicht Londons Provinz. Und diese Haltung ist nichts, womit Schotten gut leben können. Da wiegt umso schwerer, dass das Land und vor allem Sturgeons links-nationale Partei SNP derzeit noch andere Sorgen plagen. Und auch die haben mit der einstmals starken Frau zu tun. Es geht um die Veruntreuung von Geld, das für die Anti-Brexit-Kampagne eingesammelt worden war. Sturgeon und ihr Ehemann waren ins Blickfeld der Ermittler geraten, die ehemalige Regierungschefin wurde vorübergehend gar festgenommen. Politische Widersacher sprechen im Zusammenhang mit dem Ehepaar von McMafia.

Unter diesen Vorzeichen versuchte zunächst der neue Partei- und Regierungschef Humza Yousaf in der Koalition mit den Grünen politisch Land zu gewinnen. Er war zuvor Gesundheitsminister. Programmatisch ist die Arbeit der Regierung mit einer rot-grünen Koalition in Deutschland vergleichbar, inklusive geplanter stärkerer Besteuerung höherer Einkommen. Doch auch Yousafs Mission ist schon wieder beendet. Seit Mai ist es an John Swinney, Regierung und Partei auf Kurs zu bringen.

Unabhängigkeit kein populäres Thema mehr

Aber die Perspektiven sind alles andere als gut. Inzwischen ist selbst die mögliche Aussicht auf eine staatliche Unabhängigkeit von Großbritannien kein politischer Kassenschlager mehr, zumal niemand eine Antwort darauf hat, wie die finanzielle Lücke zu schließen wäre ohne die Milliarden aus London. Die Zustimmung zu dieser Idee befindet sich seit einiger Zeit im Sinkflug. Swinneys Schottischer Nationalpartei droht bei den nächsten britischen Parlamentswahlen ein echtes Debakel.

Der Versuch der SNP, Schottland als den besseren Teil von Großbritannien zu positionieren, ist anscheinend fehlgeschlagen. Dass die Regierung in London Milliardenbeträge nach Edinburgh überweist, die Infrastruktur Schottlands mit den Anforderungen dennoch nicht mehr Schritt hält, ist dafür nur ein Indiz von vielen. Besser als in England ist in den Highlands derzeit offenbar nichts.

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