Verbrechen

Missbrauchsfälle in Nordbaden mit Bezug zur Odenwaldschule

Beim Pfadfinderbund Nordbaden hat es Fälle von sexuellem Missbrauch gegeben. Zu den Tätern gehörte wohl auch der 2006 gestorbene ehemalige Lehrer an der früheren Odenwaldschule in Heppenheim Wolfgang Held.

Von 
Stefanie Ball
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Zerrissene Kinderbilder liegen neben einem aufgeschlagenen Fotoalbum. Viele Missbrauchsopfer tragen die Folgen ein Leben lang. © Julia Steinbrecht/KNA

Rhein-Neckar. Irgendwann habe sich der Arm von K. in seinem Schlafsack befunden. „Als kleiner Junge habe ich mir nicht viel dabei gedacht“, sagt Rainer W. Mehr als fünfzig Jahre ist das her, er war damals zehn Jahre alt und Mitglied beim Pfadfinderbund Nordbaden. K. war Gruppenleiter. Rainer W. und K. heißen in Wirklichkeit anders, beide Namen sollen für diesen Bericht anonymisiert werden. K. habe immer gewollt, dass Rainer W. den Schlafsack neben seinen legt. „Ich fand das komisch und später auch irritierend und widerlich.“ Er sagt zu K., dass er nicht mehr sein Knappe sein wolle. Da sind sie auf einer Großfahrt auf Sardinien, Rainer W. ist inzwischen 14 Jahre alt. K. äußert sich enttäuscht, will ihn unter Druck setzen und isoliert ihn innerhalb der Pfadfindergruppe. „Der hat mich einfach ignoriert, das war kein schönes Gefühl.“

Es habe niemanden gegeben, dem er sich habe anvertrauen können. Auch seinen Eltern nicht. Rainer W. wird älter, erwachsen, verlässt die Rhein-Neckar-Region. An die Situation von damals habe er immer wieder gedacht und mit der Zeit einen Widerwillen gegen die Person entwickelt. „Ich wollte sie einfach nie wieder sehen.“ Da erreicht ihn eine E-Mail von Ulrich Riehm aus Mannheim.

Zeitungsartikel löst Recherche aus

Ulrich Riehm war auch als Kind beim Pfadfinderbund Nordbaden gewesen. 2019 liest der Mannheimer, inzwischen fast 70 Jahre alt, in der Wochenzeitung „DIE ZEIT“ ein Interview mit Adrian Koerfer, einer der Betroffenen des Missbrauchsskandals an der Odenwaldschule (OSO). Koerfer erzählt an einer Stelle von einer Hütte im Wald und einem Dieter: „Dann gab es noch diesen Freund, einen Unternehmer, Dieter, der Typ hatte in der Nähe von Heidelberg eine Hütte im Wald, auch dort feierten sie Partys und Held präsentierte ihm seine Jungs, also uns. Das war reine Prostitution.“ Held ist der 2006 gestorbene Wolfgang Held, in den 1970er Jahren Lehrer an der Odenwaldschule – und einer der Haupttäter in einem der größten Missbrauchsskandale der Bundesrepublik; bis zu 900 Kinder und Jugendliche wurden in dem Internat, das als Elitebildungsstätte galt, über Jahre von Lehrern sexuell missbraucht. Riehm stutzt. Nicht wegen Wolfgang Held, sondern wegen Dieter. Und der Hütte.

Er greift zum Telefon und ruft seinen Bruder an: „Hast du die ZEIT gelesen?“ Hatte er, und auch er war über den Namen Dieter, den Heidelberger Unternehmer gestolpert. Sie kannten einen Dieter aus der Pfadfinderschaft. Und auch die Hütte kannten sie, sie gehörte dem Bund. Konnte das wahr sein? War Dieter wie Held ein Pädosexueller, der sich an Kindern verging? Ein ungeheuerlicher Verdacht. Doch die Brüder lässt der Gedanke nicht mehr los, und sie fangen an zu recherchieren. Im September 2022 verfassen sie einen offenen Brief, den sie an mehr als 100 ältere, ehemalige Mitglieder des Pfadfinderbundes schicken. Zwei Dutzend Personen melden sich zurück. Um die Riehm-Brüder bildet sich in der Folge ein Aufklärungskreis, dem auch aktive Mitglieder des Pfadfinderbundes angehören. Zwei Jahre später steht das Ergebnis fest – in dem Verband hat es sexuellen Missbrauch und sexualisierte Gewalt durch führende Personen des Bundes gegeben, die Opfer suchten sie sich nicht nur, aber auch bei den Pfadfindern.

Wolfgang Held organiserte immer wieder Ausflüge für die Jungs der Odenwaldschule

Auf einer Pressekonferenz am 15. November will sich der Pfadfinderbund Nordbaden dazu bekennen, die bislang bekannten Opfer um Entschuldigung bitten und Betroffene aufrufen, die sich noch nicht gemeldet haben, dies zu tun. Ferner soll ein Präventionskonzept vorgestellt werden, um künftige Fälle von Missbrauch zu verhindern. „Wir möchten mit der Geschichte aufräumen und nichts verschweigen“, erklärt Rahel Baumert vom Pfadfinderbund Nordbaden in einem Gespräch. Der Pfadfinderbund umfasst aktuell vier Gruppen in Heidelberg und Ettlingen mit rund 40 Kindern, Jugendlichen und Gruppenleitern.

Um die Recherchen nachvollziehen zu können, hat diese Zeitung mit Betroffenen gesprochen. Von den mutmaßlichen sechs Tätern, die der Aufarbeitungskreis identifiziert hat, sind fünf verstorben. Dazu zählt auch Dieter, der Heidelberger Unternehmer. Adrian Koerfer hat Dieter allerdings auf einem Foto identifiziert und bestätigt, dass einer seiner Drillingsbrüder von diesem missbraucht wurde.

Wolfgang Held, der wie Dieter Mitglied im Pfadfinderbund war, organisierte am Wochenende immer wieder Ausflüge, er packte die Jungs von der Odenwaldschule in einen VW-Bus und los ging’s. Ein Ziel war jene Hütte im Odenwald, und dort traf man dann auf Dieter. „Der hatte eine Cordhose an mit einem kleinen Bleistift und einem kleinen Notizblock, die beide in die Hosentasche passten. Der zog sich neben einem seiner präferierten Opfer aus, das habe ich noch vor Augen, man vergisst es nicht“, erzählt Koerfer.

Übergriff während einer Fahrt in den Odenwald

Eine weitere Person, die viele Jahre als Pfadfinderleiter aktiv war, wurde Anfang der 1990er Jahre wegen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen zu einer Gefängnisstrafe verurteilt.

Der dritte Täter ist Wolfgang Held, dessen ungeheuerliches Treiben an der Odenwaldschule unstrittig ist. Der vierte Beschuldigte ist die Person, die gegenüber Rainer K. übergriffig wurde, er starb im vergangenen Jahr. Den Namen des Mannes will Rainer K. nicht nennen.

Der fünfte Beschuldigte, 2018 verstorben, war bei den Pfadfindern in Mannheim aktiv. Laut Rahel Baumert waren die pädophilen Neigungen des Mannes bekannt gewesen: „Wir haben Gespräche mit mehreren Personen geführt, die uns das bestätigt haben.“ Überdies gibt es einen Betroffenen, der sich allerdings nur schriftlich äußern will. Er nennt einen Übergriff während einer Fahrt in den Odenwald im Frühsommer 1969. Die Kinder hätten in Zelten gelegen, auch Kothe genannt, der Gruppenleiter habe zu ihm gesagt, er solle doch bei ihm draußen nächtigen: „In den nächsten Minuten bemerkte ich, dass er immer näher an mich heranrückte. Wenn ich versuchte, etwas Abstand zu bekommen, rückte er kurz darauf nach. Ich kann nicht sicher behaupten, dass ich sein Gemächt am Rücken spürte, und er hat mich auch nicht angefasst, aber nach 15 oder 20 Minuten war mir die Situation so eng und so eindeutig, dass ich aufstand und mich zu den anderen in der Kothe gesellte, wo Th. eher spaßhaft meinte: ,Ich hab‘s dir ja gleich gesagt‘“.

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Der Hinweis auf einen sechsten mutmaßlichen Täter kam nach dem offenen Brief der Aufklärungsgruppe. So meldete sich ein Vater und berichtete von Belästigungen seines Sohnes. Der Vater habe sich 2001 an den Stamm gewandt, in dem sein Sohn Mitglied war. „Die Antwort war, so hat es uns der Vater erzählt, eine Einmischung von außen sei nicht gewünscht, ,wir lösen das selbst‘“, berichtet Riehm. Besonders heikel an diesem Fall: Der Mann lebt noch. Nach Bekanntwerden der Vorwürfe entbindet ihn der Pfadfinderbund Anfang dieses Jahres von allen Aufgaben und schließt ihn aus dem Verband aus.

Koerfer hat kürzlich seinem Bruder, der von Dieter missbraucht worden war, geschrieben. Der schreibt zurück: „Die Täter kommen davon, bei uns bleibt es lebenslänglich.“

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