Naturschutzbund

Jeder dritte Vogel ist ein Haushuhn – warum das ein Problem ist

Der Ornithologen Heinz Kowalski appelliert bei einem Empfang des Nabu-Kreisverbandes für eine stärkere Gewichtung des Artenschutzes.

Von 
Thomas Tritsch
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Bergstrasse. Wenn die Pfuhlschnepfen in jedem Frühling nach fast zehn Tagen Nonstop-Flug über den Pazifik wieder die Küsten von Neuseelands Südinsel erreichen, dann rufen Vogelkundler den örtlichen Pfarrer an, der daraufhin einen Freiluftgottesdienst organisiert. Mit Glockengeläut. Der menschliche Willkommensgruß für die Langstrecken-Zugvögel ist dort eine schöne Tradition geworden. Nur 2022 blieb die Kathedrale still. Wegen der formalen Trauerperiode für die verstorbene Königin Elisabeth II.

Thema Artenvielfalt werde auf gefährliche Weise unterbewertet

Nach Ansicht des Ornithologen Heinz Kowalski müssen in Deutschland nicht gleich heilige Messen stattfinden, wenn eine Vogelart oder irgendein anderes Getier wieder in der Heimat landet oder sich auf alternative Weise bemerkbar macht. Doch ein bisschen mehr Bewusstsein für die Artenvielfalt und die massive Bedrohung der Biodiversität wäre ihm schon recht.

Denn das Thema werde auf gefährliche Weise unterbewertet. In Bensheim kritisierte der Sprecher des Bundesfachausschusses für Vogelschutz im Naturschutzbund (NABU) Deutschland eine zu hohe Gewichtung des Klimaschutzes gegenüber des Artensterbens. Kowalski will beide Facetten der akuten Zwillingskrise nicht gegeneinander ausspielen, aber es hapere im politischen Diskurs erheblich am nötigen Gleichgewicht.

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„Die öffentliche Debatte ist mir zu einseitig“, so das (einzige) Mitglied des Ehrenpräsidiums im Bundesverband beim Neujahrsempfang des NABU Bergstraße am Sonntag im Naturschutzzentrum an der Erlache gekommen waren. Vor 40 Gästen forderte Kowalski mehr Beachtung des vom Menschen verursachten Verschwindens vieler Tierarten. Selbst in wissenschaftlichen Veröffentlichungen sei das Thema Biodiversität – die Ganzheit verschiedener Lebensformen und Lebensräume sowie die genetische Vielfalt innerhalb der Arten – mit weniger als zehn Prozent der Publikationen erheblich unterrepräsentiert.

Rote Liste wird immer länger

Täglich verschwinden bis zu 150 Tier- und Pflanzenarten von der Erde, so der Naturschützer. „Die rote Liste wird immer länger!“ Durch den Einfluss des Menschen passiere dies einhundert Mal schneller als auf natürliche Weise. Das bedeute, dass es keine Zeit für ökologische Regeneration gebe. Die Situation sei offenkundig ernst. „Aber ich vermisse einen Aufschrei!“

Flächenverbrauch und Flüchtlingssituation

Der hauptamtliche Kreisbeigeordnete Matthias Schimpf – auch Vorstandssprecher der Bergsträßer Grünen – betonte die konstruktive Zusammenarbeit mit dem NABU auf kommunaler Ebene. Der Verband sei ein kompetenter Ansprechpartner für die Untere Naturschutzbehörde und die fachlichen Gremien des Landkreises. Schimpf beleuchtete das Thema Flächenverbrauch vor dem Hintergrund der Flüchtlingssituation an der Bergstraße. Die Vorgabe „Innen- vor Außenentwicklung“ sei in diesem Kontext überaus schwierig, wenn man den über 3000 Menschen in den kreiseigenen Unterkünften perspektivisch Wohnraum zur Verfügung stellen wolle. Neben dem Schutz der Artenvielfalt und den Ansprüchen seitens der Landwirte müsse man im öffentlich-politischen Diskurs auch diese gewaltige gesellschaftspolitische Herausforderung berücksichtigen. tr

Der Verlust der Artenvielfalt verlaufe nach außen hin zunächst weniger spektakulär, sei aber mindestens genauso dramatisch wie der Klimawandel, so der Gastredner in Bensheim. Vielleicht ist dieser leisere Prozess sogar noch existenzieller: Denn während die Erderwärmung die Art und Weise verändern wird, wie der Menschen auf dem Planeten leben kann, entscheide das Artensterben darüber, ob er überhaupt überleben wird. Schon Albert Einstein soll 1949 gesagt haben: „Wenn die Biene einmal von der Erde verschwindet, hat der Mensch nur noch vier Jahre zu leben. Keine Bienen mehr, keine Bestäubung mehr, keine Pflanzen mehr, keine Tiere mehr, keine Menschen mehr. „ Jede Spezies, die verschwindet, erhöhe das Risiko für den Kollaps bedeutender Ökosysteme und damit auch für den Fortbestand der Menschheit.

Das Künstliche habe längst das Natürliche überholt

Wissenschaftler sehen die Biodiversitätskrise als eindeutig menschengemacht – eine unangenehme Parallele zum Klimawandel. Den passiven Begriff des Aussterbens, der eine interne Reduzierung suggeriert, sehen daher viele Naturschützer als problematisch an, weil er die Realitäten verschleiere. 2022 hatte der UN-Generalsekretär António Guterres die Menschheit als Massenvernichtungswaffe bezeichnet, die einen Krieg gegen die Natur führe. Zum ersten Mal erlebe die Erde, dass eine einzelne Art für das Aussterben extrem vieler anderer Arten verantwortlich ist, so auch Kowalski.

Im Anthropozän, also dem geologischen Zeitalter, das vom Menschen bestimmt ist, habe das Künstliche längst das Natürliche überholt. Das menschlich Geschaffene überwiegt. Es gebe heute mehr domestizierte Hühner (27 Milliarden) als andere Vogelarten. Jeder dritte Vogel auf der Erde ist ein Haushuhn. Vor 50 000 Jahren repräsentierte der Mensch nur ein Prozent der globalen Biomasse an Land, heute sind es 34 Prozent. 62 Prozent entfallen auf die Tiere, die er sich zum Leben hält.

Gesamtmasse der Fluginsekten hat um mehr als 75 Prozent abgenommen

Heinz Kowalski verweist auf den Raubbau des Menschen, der gleichzeitig von der Natur und ihren kostenlosen Geschenken profitiere. Das nennt man Ökosystemleistung: die Summe aller Gratis-Dienstleistungen, die die Basis für grundlegende Bedürfnisse des Menschen wie beispielsweise den Zugang zu Wasser und Nahrung umfassen.

NABU-Kreisverband hat 3500 Mitglieder in elf Ortsgruppen

Nach Angaben der Ersten Kreisvorsitzenden Bettina Walter (NABU Heppenheim) besteht der Nabu-Kreisverband derzeit aus rund 3500 Mitgliedern in elf Ortsgruppen.

Neben aktivem Naturschutz bringt sich der Kreisverband auch auf politischer Ebene in die Entscheidungsfindung mit ein, so Walter.

Aktuell sei dies im Kontext des Regionalplans der Fall, der in diesem Jahr neu aufgestellt und die planungsrechtlichen Details für die Region neu definieren wird. „Wir müssen Mensch und Natur zusammen denken“, so die Vorsitzende im Naturschutzzentrum. tr

Dennoch werde dies in der deutschen Wirtschaft als Nischenthema diskreditiert, so der Naturschützer, der in Bensheim Beispiele der Bedrohung nennt: So habe sich das Fischfangvolumen in der Ostsee in einigen Jahren halbiert. Täglich gingen in Deutschland rund 56 Hektar Fläche durch Bebauung oder andere Nutzung verloren, rund 80 Prozent der Wälder zeigen deutliche Kronenschäden. Die Gesamtmasse der Fluginsekten hat laut verschiedener Studien in den vergangenen drei Jahrzehnten um mehr als 75 Prozent abgenommen. Wertvolle Bestäuber, die für die Balance des fragilen Ökosystems entscheidend sind.

Golfen, während der Wald brennt

Kowalski zeigt ein Foto mit drei Männern, die seelenruhig putten, während im Hintergrund ein riesiger Waldbrand lodert. 2017 ein viel gepostetes Motiv, geschossen im US-Bundesstaat Oregon – heute steht das für ihn sinnbildlich für die Wahrnehmung der Erde seitens des Menschen. Politische Absichtserklärungen wie im neuen Koalitionsvertrag in Hessen seien gut, aber reichten nicht aus.

Der NABU-Vertreter bezweifelt, ob das erklärte Ziel eines maximalen Flächenverbrauchs von 2,5 Prozent und die Ausdehnung der Öko-Landwirtschaft auf 25 Prozent tatsächlich eingehalten werden. Dennoch mahnt er zu einem andauernden Dialog mit Politik und Wirtschaft, um auf die brennenden Themen unserer Zeit aufmerksam zu machen. Auch auf unterer Ebene im kommunalen Bereich. „Wir dürfen unsere Erfolge nicht kleinreden und müssen aktiv weitermachen“, so Heinz Kowalski in Bensheim. Auch in ihrer Funktion als politisches Korrektiv und kompetenter Sparringspartner dürfe der Verband nicht aus einer vermeintlichen Schwäche heraus auftreten, sondern müsse selbstsicher und souverän eigene Positionen nach außen vertreten. Es gehe sowohl um praktischen wie auch um politischen Naturschutz. Mit fast einer Millionen Mitgliedern sei der NABU eine gesellschaftliche Größe mit Gewicht, die es gewohnt sei, Gegenwind auszuhalten.

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Gerlinde Scharf
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Auch Nabu-Ehrenvorstand Gerhard Eppler appellierte an die Mitglieder, im Sinne des Natur- und Umweltschutzes keine Barrieren aufzubauen, sondern das Gespräch zu suchen. Nicht nur mit der Politik, sondern auch mit Interessengruppen wie Landwirten, Förstern oder Jägern. Statt harter Fronten plädiert Eppler für den runden Tisch, um einzelne Themen mit jenen Akteuren zu besprechen, die dabei eine konkrete Funktion einnehmen. Nur so könne bestehe die Aussicht auf eine gute Lösung für die Natur.

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