Bergstraße. 55 Jahre alt sind die Aufnahmen, die Rosemarie G. aus Bensheim (die ihren kompletten Namen nicht in der Zeitung lesen möchte) der Redaktion zugeschickt hat. Unter dem Motto „Fotos mit Geschichte“ hat die Redaktion dazu aufgerufen, Bilder einzusenden (mehr dazu in der Infobox). Am 13. September 1969 war der damalige Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU) an die Bergstraße gekommen, um im Vorfeld der für den 28. September 1969 angesetzten Bundestagswahl beim Winzerfest für sich und seine Partei zu werben. „Auf den Kanzler kommt es an!“ lautete seinerzeit der Slogan der CDU. Es waren politisch bewegte Zeiten. Kiesingers Amtszeit fiel in die Hauptphase der Außerparlamentarischen Opposition (APO).
„Kiesinger, der mit dem Hubschrauber auf dem Schwanheimer Segelflugplatz gelandet war und im Mercedes 600 zur Kundgebung rollte, hatte mehrere tausend Zuhörer, die starken Beifall bekundeten, und eine stimmschwache Opposition junger Leute“, schrieb der BA seinerzeit über den Wahlkampfauftritt in Bensheim. Mit dabei war auch Rosemarie G., die trotz Schwangerschaft den damaligen Kanzler nicht nur selbst fotografieren konnte, sondern mit ihm auch ins Gespräch kam.
„Ich habe ihn sehr freundlich und zugewandt in Erinnerung“, sagt sie: „Sicher haben wir nichts Politisches erörtert, sondern mehr das, was man heute als Smalltalk bezeichnet. Ich meine, dass ich ihm Gutes gewünscht habe, sowie er mir in meinem damaligen Zustand.“ Auf einem der zugesandten Bilder ist das Gespräch sogar dokumentiert.
Mit anderen Besucherinnen ging der damalige Kanzler weniger freundlich um. Der BA schrieb damals: „ So kam ein junges Mädchen, isoliert und ohne APO-Anhang buchstäblich zwischen Parteiordnern und Parteigängern sitzend, zu gelegentlicher Zwiesprache mit dem Regierenden. Der Ruf ,Diskussion’ drang kaum ein paar Meter weit, doch der Kanzler fing ihn ein, focht Säbel gegen Florett: ,Diskussion mit solch einem dünnen Stimmchen mache ich nicht!“
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Im Kreis Bergstraße machte Kiesinger nicht nur in Bensheim Wahlkampf
Nicht zimperlich gingen die Christdemokraten seinerzeit verbal auch mit Kritikern der Wahlkampfkundgebung um. So hatte sich an der Kreuzung Schwanheimer Straße/Berliner Ring ein Mann mit einem Plakat postiert, auf dem zu lesen war: „Wir lassen unser Winzerfest nicht politisieren.“ Der damalige CDU-Kreisvorsitzende Otto Wagner hatte daraufhin in seinen Grußworten eine scharfe Attacke gegen die Kritiker geritten: „Und da sind so ’n paar, für die ich als Bergsträßer keine Verantwortung übernehmen kann. Das sind Importierte in rollendem Einsatz. Jawohl, das sind Ausländer für uns Südhessen.“ Der BA hatte sich umgehört, von wo die Kritiker kamen: „Junge Männer und ein paar Mädchen aus Bensheim, Heppenheim, Zwingenberg; einer gab an, aus Worms zu kommen.“ Die Oppositionellen wurden beschrieben als, „APO-artig zumeist am Schopf uniformiert gelegentlich auch zarten Flaum zu Bärten hochgepäppelt“.
Zwischenrufer erzwangen laut Bericht „ein abschließendes Wort“ des – aufgrund seiner NS-Vergangenheit wiederholt öffentlich kritisierten – „Kanzlers zur NPD: ,Gleichgültig, ob da links- oder echtsextremistische Kräfte wirken – sie stören uns den Frieden und rauben und das Ansehen im Ausland.“
Im Kreis Bergstraße machte Kiesinger nicht nur in Bensheim Wahlkampf. Weitere Stationen waren Heppenheim, Lorsch und Bürstadt. Gereicht hat es für ihn am 28. September 1969 trotzdem nicht. Die CDU/CSU wurde zwar wieder stärkste Kraft (46,1 Prozent), aber die SPD erhöhte ihren Stimmenanteil auf 42,7 Prozent und konnte zusammen mit der FDP (5,8 Prozent) eine neue Regierung bilden. Willy Brandt wurde als erster SPD-Bundeskanzler Kiesingers Nachfolger.
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