Bergstraße. Seit 1992 gilt in Deutschland die UN-Kinderrechtskonvention. In 54 Artikeln wird beschrieben, was Kindern zusteht und wie sie beschützt werden müssen. Unter anderem steht ihnen ein Recht auf Gesundheit, Bildung und Beteiligung zu. Kinder dürfen nicht diskriminiert oder in anderer Weise benachteiligt werden und sie haben ein Recht auf Ruhe und Freizeit, Spiel und Erholung. In Deutschland ist die Konvention verbindlich im Rang eines einfachen Bundesgesetzes. Mit der Ratifizierung hat sich die Bundesrepublik dazu verpflichtet, die Rechte von Kindern zu achten, zu schützen und zu fördern. Dabei gelten in Deutschland alle Menschen bis 18 Jahre als Kind.
Kritiker sagen: Trotz Zustimmung ist das 1989 definierte Übereinkommen der Vereinten Nationen in Deutschland noch immer nicht vollständig umgesetzt. Besonders bei Entscheidungen von Politik, Verwaltung und Rechtsprechung würden die Rechte von Kindern und Jugendlichen noch viel zu wenig berücksichtigt.
Grundpfeiler der Stiftungsarbeit
In ihrer Reihe „Weiter denken“ hat sich die Karl-Kübel-Stiftung für Kind und Familie jetzt in einem öffentlichen Format mit einem Thema befasst, das seit 50 Jahren ohnehin zu den Grundpfeilern ihrer täglichen Arbeit gehört: Die Stiftung will mit ihren Projekten Familien am gesellschaftlichen Leben beteiligen und allen Kindern gerechte Chancen und einen guten Start ins Leben ermöglichen. Aber wie sieht es 30 Jahre nach Verabschiedung der Kinderrechtskonvention tatsächlich aus?
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„Es sind bis heute Mängel und Defizite in der Umsetzung erkennbar“, so Katharina Gerarts, Vorstandsmitglied der Karl-Kübel-Stiftung, im Gemeindesaal von Sankt Georg in Bensheim. Die Kindheitswissenschaftlerin war von 2017 bis 2019 Beauftragte der Hessischen Landesregierung für Kinder- und Jugendrechte und hat vor drei Jahren ein Kinderrechte-Institut gegründet. Zum Ende des Monats wird sie die Karl-Kübel-Stiftung nach zwei Jahren auf eigenen Wunsch verlassen und künftig wieder wissenschaftlich tätig sein.
In ihrem Vortrag vor kleiner Runde beleuchtete sie Chancen, Herausforderungen und Grenzen der Konvention aus heutiger Perspektive. Fazit: Die UN-Regeln haben viel Positives bewirkt und Kindern die Teilhabe am gesellschaftlichen und demokratischen Miteinander erleichtert. Zudem würden kindliche Perspektiven in der Politik seither stärker wahrgenommen und in der Entscheidungsfindung berücksichtigt. „Kinderrechte sind ein Treiber der Gesellschaft“, sprach Gerarts auch Bewegungen wie „Fridays for Future“ an, die im öffentlichen Diskurs eine gewichtige Rolle spielen.
„Historische Chance vertan“
Das Übereinkommen über die Rechte des Kindes gilt allgemein als ein Wegweiser für die Schaffung einer kinderfreundlichen Gesellschaft. Dadurch werden Kinder erstmalig als Inhaber von Rechten und Freiheiten, also als eigenständige Rechtssubjekte angesehen. Sie sind demnach auch juristisch mehr als nur Objekte des internationalen Rechts, deren besondere Schutzbedürftigkeit betont wird. Fraglich ist aber, ob die Ratifikationserklärung einen Vorbehalt oder lediglich eine Interpretationserklärung darstellt.
Katharina Gerarts stellt fest, dass die definierten Rechte nicht lückenlos umgesetzt oder gar von einer übergeordneten Instanz (etwa der EU) „kontrolliert“ werden, so die Wissenschaftlerin, die für einen kritischen Blick auf den Status quo plädiert. Die Kinderrechte seien insgesamt noch immer recht unbekannt – man könne aber nur für jene Rechte eintreten, die man auch kenne. Erschwerend hinzu komme die geschwächte Bindungswirkung in der deutschen Rechtsordnung, da die Konvention, die als multilaterales Abkommen einen völkerrechtlichen Vertrag darstellt, lediglich in den Landesverfassungen verankert ist.
Vor fast genau einem Jahr war ein Kabinettsbeschluss gescheitert, nach dem die Kinderrechte ins Grundgesetz aufgenommen werden sollten. Der Großen Koalition, die damals regierte, fehlte der Wille zur Einigung. Es hagelte Schuldzuweisungen. Das „Aktionsbündnis Kinderrechte“, in dem sich das Deutsche Kinderhilfswerk, der Kinderschutzbund, das UN-Kinderhilfswerk Unicef und die Deutsche Liga für das Kind zusammengeschlossen hatten, sprach von einer „historischen Chance“, die vertan worden sei.
„Rechte gehören ins Grundgesetz“
Cornelius Trendelenburg stimmt dem zu. Der Jura-Professor an der Frankfurter Goethe-Universität ist stellvertretender Vorsitzender des Kinderschutzbunds in Hessen. Ihm liegt vor allem die juristische und rechtspolitische Seite des Kinderschutzes am Herzen. Die Aufnahme der Kinderrechte in das Grundgesetz betonte er in Bensheim als wichtiges Ziel. Die UN-Kinderrechtskonvention stelle bis heute die umfassendste und fortschrittlichste Sammlung von spezifischen Kinderrechten dar. Und 2010 wurde in der deutschen Variante auch der letzte Vorbehalt bezüglich der Stellung minderjähriger Flüchtlinge aufgegeben. In Deutschland habe diese Konvention allerdings den Rang sogenannten einfachen Rechts, steht also mit anderen Gesetzen auf der gleichen Ebene und damit ganz klar unterhalb des Grundgesetzes.
US-Recht steht im Widerspruch
Kinderrechte sind zwar auch Menschenrechte, so der Rechtswissenschaftler. Es wäre aber ein Fehlschluss anzunehmen, dass Kinderrechte mit Menschenrechten abgedeckt seien. Zwar komme Kindern Menschenwürde zu und selbstverständlich stehe ihr Leben unter staatlichem Schutz. Doch seien Kinderrechte spezifische Rechte, die entweder für Erwachsene selbstverständlich sind und für Kinder (noch) nicht – oder es handelt sich dabei um Rechte, die nur für Kinder relevant sind. Es mache daher einen gewaltigen Unterschied, ob es für Kinder eine eigenständige Gewährleistung gibt oder deren Ansprüche lediglich „mitgemeint“ oder interpretiert werden.
Auch in der Rechtsprechung und der Verwaltung sei das Bewusstsein für Kinderrechte noch immer lückenhaft oder wenig ausgeprägt, so Trendelenburg. Eigenständige Kinderrechte hätten zudem auch eine symbolische Wirkung, die nicht zu unterschätzen sei.
Auch der Völkerrechtler Daniel Heilmann (Karl-Kübel-Stiftung) verwies auf die Schnittmenge von Kinder- und Menschenrechten, warf als zuständiger Vorstand für die internationale Entwicklungszusammenarbeit aber auch einen Blick auf die weltweite Situation. Hier gebe es gravierende Unterschiede, wenngleich die Konvention von fast allen Nationen unterzeichnet wurde. Die USA haben das Übereinkommen nicht ratifiziert, weil das amerikanische Straf- und Prozessrecht viele Artikel umfasst, die im Widerspruch zu den UN-Artikeln stehen. Es gibt Bundesstaaten, die es erlauben, dass Minderjährige ohne Bewährungsmöglichkeit zu lebenslanger Haftstrafe verurteilt werden können. Bis 2005 war sogar die Todesstrafe möglich. Außerdem garantiert die Kinderrechtskonvention eine gewaltfreie Erziehung. Doch ein Drittel der US-Bundesstaaten erlaubt Schullehrern weiterhin die körperliche Züchtigung von Schülern – und kein einziger Bundesstaat hat ein Gesetz gegen Züchtigung im Elternhaus.
„Alle zehn Sekunden stirbt ein Kind“
Heilmann betonte, dass die Rechte von Kindern in vielen Ländern sehr unterschiedlich ausgelegt würden. Letztlich komme es immer darauf an, wie ernst eine Nation die Inhalte nimmt und was sie daraus mache. „Denn fest steht: Kinderrechte nehmen den Staat in die Pflicht“, so der Stiftungsvorstand.
Miriam Zeleke ist seit zwei Jahren die erste hessische Landesbeauftragte für Kinder- und Jugendrechte. Für sie ist es „nachhaltig und klug“, wenn man Kinderrechte in politischen Entscheidungsprozessen berücksichtigt und aktiv einbindet. „Wir müssen Kinder als vulnerable Gruppe wahrnehmen, aber auch als Konstrukteure ihrer eigenen und unser aller Lebenswelten“, fasste Katharina Gerarts zusammen.
Begrüßt wurden die Teilnehmer und Gäste vom Stiftungsratsvorsitzenden Matthias Wilkes, der auf eines der grundlegenden Probleme aufmerksam machte, das es selten in die Nachrichten schafft: „Weltweit stirbt alle zehn Sekunden ein Kind unter fünf Jahren durch Mangelernährung“, so Wilkes. „Das müsste eigentlich täglich eine Schlagzeile wert sein.“
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