Kinder- und Jugendschutz

Jugendamt verzeichnete 2023 deutlich mehr Gefährdungsmeldungen

Eine erhöhte Achtsamkeit in der Bevölkerung trägt maßgeblich zu dieser Entwicklung bei

Von 
Jörg Keller
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Im Landratsamt in Heppenheim wurde am Montag die Jahresbilanz des Jugendamtes vorgestellt. © Thomas Neu

Bergstraße. 573 Meldungen von Verdachtsfällen auf Kindeswohlgefährdung verzeichnete das Jugendamt des Kreises Bergstraße im vergangenen Jahr. Das sind 78 mehr als 2022, als 495 Meldungen registriert wurden. 2021 waren es 520, 2020 nur 473. Seit 2016 verzeichne man fast kontinuierlich steigende Zahlen bei den der Behörde mitgeteilten Vorkommnissen oder Beobachtungen. Dies hängt nach Einschätzung des hauptamtlichen Kreisbeigeordneten Matthias Schimpf nicht zwingend mit einer prozentualen Zunahme der tatsächlichen Kindeswohlgefährdungen zusammen. „Die Achtsamkeit in der Bevölkerung hat zugenommen“, ist sich Schimpf sicher, der nach dem Ausscheiden von Diana Stolz aus der Kreisspitze als Dezernent auch für den Bereich Jugendhilfe zuständig ist.

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Es sei mittlerweile gelungen, beispielsweise auch vermehrt Nachbarn und Lehrer für das Thema zu sensibilisieren. Die Zahl der Hinweisgeber aus dem Umfeld von Problemfällen steige. 89 anonyme Meldungen zu Verdachtsfällen auf Kindeswohlgefährdung sind laut Statistik 2023 beim Jugendamt eingegangen. Nach Polizei und Justiz mit 145 Hinweisen handelt es sich um die größte Quelle für Beobachtungen, denen die Mitarbeiter des Jugendamtes nachgehen. 51 Mal gaben Eltern(-teile) oder Sorgeberechtigte selbst den Anstoß, tätig zu werden. 49 Hinweise kamen aus Schulen, 37 von Kindertageseinrichtungen, 35 von Bekannten oder Nachbarn der Familie und 32 von Verwandten.

Kein Hilfebedarf bei mehr als der Hälfte der Verdachtsfälle

„Es geht hier nicht um Denunzierungen“, betont Matthias Schimpf. Für das Wohlergehen vieler Kinder sei die Achtsamkeit in ihrem Umfeld jedoch äußerst wichtig. „Lieber einmal zu viel geschaut, als einmal zu wenig“, laute daher die Maxime. „Daher auch die Bitte an alle Beteiligten: Schauen Sie nicht weg!“, appelliert Jugendamtsleiter Kai Kuhnert.

Über 200 Mitarbeiter

Das Jugendamt ist mit über 200 Mitarbeitern die größte Abteilung der Kreisverwaltung.

In den vergangenen Jahren seien zahlreiche neue Stellen geschaffen worden, etwa im Bereich der Kinderschutzkoordinatoren oder des Kinderschutz-Teams.

Amtsleiter ist Kai Kuhnert. Dezernent ist seit dem Ausscheiden von Diana Stolz aus der Kreisspitze der hauptamtliche Kreisbeigeordnete Matthias Schimpf.

In den 22 Kommunen des Kreises Bergstraße leben knapp 48 000 Minderjährige.

Im Frühjahr 2022 wurde das Kinderschutz-Team geschaffen. Bei diesem laufen alle gefährdungsrelevanten Informationen zusammen. Erreichbar ist es unter der zentralen Kinderschutz-Nummer 06252/154188.

Das Jugendamt kooperiert unter anderem mit Schulen, Kindertagesstätten, der Polizei, Kliniken und der Gewaltschutzambulanz in Heidelberg. kel

In mehr als der Hälfte der Verdachtsfälle stellte sich 2023 laut der Statistik des Jugendamtes heraus, dass kein Hilfebedarf besteht. Bei rund 180 Meldungen erkannten die Mitarbeiter Hilfebedarf, auch wenn keine konkrete Kindeswohlgefährdung vorlag. Den Familien wurden Beratungen angeboten oder es wurde Unterstützung bei der Erziehung organisiert.

Vernachlässigung, Misshandlung und sexuelle Gewalt

Für 85 Kinder und Jugendliche wurde entweder eine latente oder akute Gefährdungssituation erkannt. Das entspricht etwa 15 Prozent aller Meldungen. Da auch Mehrfachnennungen möglich waren, wurden in diesen Fällen 111 Gefährdungssituationen festgestellt. 53 junge Menschen waren von Vernachlässigung betroffen. Bei 24 Kindern oder Jugendlichen kam es zu psychischen Misshandlungen, bei 24 zu körperlichen Misshandlungen und bei sieben zu sexueller Gewalt.

Insgesamt 117 Kinder und Jugendliche aus dem Kreis Bergstraße wurden 2023 entweder auf eigenen Wunsch oder nach Beschluss eines Familiengerichts in Obhut genommen. Sie wurden in Einrichtungen der stationären Jugendhilfe oder in Bereitschaftspflegestellen untergebracht. Die Suche nach entsprechenden freien Plätzen ist nicht immer einfach. Gerade habe in Bensheim eine neue Inobhutnahme mit zehn Plätzen eröffnet. „Die werden schnell belegt sein“, ist sich der Kreisbeigeordnete sicher.

Bei "Systemsprengern" wissen Eltern und Lehrkräfte nicht mehr weiter

„Wir sind aber nicht die Behörde, die Familien die Kinder wegnimmt“, wird Matthias Schimpf nicht müde zu betonen. Wichtigste Aufgabe des Jugendamtes sei es, die Situation in den Familien zu festigen und diese nicht zu zerstören. „Man muss in vielen Fällen die Auslöser für Fehlentwicklungen finden“, sagt Matthias Schimpf. Fachwissen, Abwägung und Empathie seien für die Mitarbeiter des Jugendamtes besonders wichtig um die individuelle Situation einzuschätzen. Und das auch mit Blick auf die Eltern: „Eine Falschbeschuldigung kann existenzbedrohend sein“, sagt Schimpf.

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In anderen Fällen wissen Eltern und Lehrer auch einfach nicht mehr weiter. Etwa bei sogenannten „Systemsprengern“ – Kindern und Jugendlichen, die weder in der eigenen Familie, noch in der Schule oder sozialen Gruppen zurechtkommen. Hier sei frühe Unterstützung besonders wichtig, so Matthias Schimpf: „Das Jugendamt ist in erster Linie ein Hilfegeber.“ Keinesfalls sehe man sich als Behörde, „die Eltern auf die Finger klopft, wenn etwas schiefläuft“. Und erst in letzter Konsequenz sei man eine Eingriffsbehörde. Dennoch ist in manchen Fällen schnelles Handeln gefragt. So nehme man als Jugendamt auch eine Wächterfunktion ein. Und die ist nicht an die normalen Dienstzeiten der Behörde gebunden. Um den Kinder- und Jugendschutz zu gewähren ist eine Rufbereitschaft eingerichtet. Diese wurde 2023 119 mal kontaktiert. 71 Einätze fanden dabei am Wochenende, also von Freitagnachmittag bis Sonntag, statt.

Redaktion Redakteur, Ressorts Lorsch, Einhausen und Region

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