Gesundheitsserie

Gesundheitsserie: „Dr. Google verunsichert viele Eltern“

Der Kinderarzt Dr. Mark Servatius spricht im Interview im ersten Teil unserer Gesundheitsserie über fehlende Medikamente, zunehmende Bürokratie und schlechte Vergütung.

Von 
Angela Schrödelsecker
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Dr. Mark Servatius betont, dass er sehr gerne Kinderarzt ist, aber bei einigen politischen Entscheidungen vergeht ihm auch mal das Lachen. © Thomas Zelinger

Bergstraße. Herr Dr. Servatius, was sind denn momentan die häufigsten Probleme, mit denen Ihre Patienten zu Ihnen kommen?

Dr. Mark Servatius: Unsere Patienten sind im Alter von 0–18 Jahre – von daher sind die Probleme vielfältig. Aber wir sind gerade in einer langanhaltenden Erkältungswelle. Seit Corona hat sich das verschoben. Früher war das mit den Kindern ein bisschen wie mit Winterreifen, von O bis O – also von Oktober bis Ostern – reihten sich die Infekte hintereinder weg. Jetzt zieht sich das über den Sommer.

Auch Keuchhusten ist häufiger vertreten, selbst wenn die Kinder geimpft sind. Im Moment sind ein paar Atemwegserreger unterwegs, auch bakterielle Erreger, die ziemlich viele Probleme machen. Besonders hervorzuheben sind die Mykoplasmen, die eine Lungenentzündung auslösen können. Das sind Bakterien, die insofern gemein sind, dass die gängigen Antibiotika nicht wirken, da sie intrazellulär leben und man ein bestimmtes Antibiotikum braucht. Und ein weiteres Problem war, dass das passende Antibiotikum nicht erhältlich war, was ich in einem Land wie Deutschland wirklich bedenklich finde.

Das respiratorisches Synzytial–Virus – kurz RSV– war in den letzten Jahren immer wieder Thema. Inwieweit beschäftigt Sie das aktuell?

Servatius: Jetzt beginnt auch die Saison für RSV, das vor allem für Babys gefährlich ist. Da es ein Virus ist, funktioniert kein Antibiotikum. Es gibt allerdings eine Art Impfung, ein sogenannter Antikörper. Das ist ein tolles Medikament, das den Babys am Anfang der Saison gespritzt wird und bis zum Ende der Saison im März wirkt. Es gibt seit 2024 die Empfehlung von der Ständigen Impfkommission (Stiko), dass Neugeborene bis zum ersten Geburtstag die Antikörper bekommen sollen. Allerdings gibt es die Einschränkung, dass das nur für ab dem 1. April geborene Kinder gilt – wenn ein Baby am 31. März geboren wurde, bekommt es das Medikament nicht bezahlt.

Die Behandlung kostet 470 Euro, das muss dann die Familie tragen – wenn sie die Spritze trotzdem wollen. Wenn das Kind ins Krankenhaus muss, kostet es übrigens die Krankenkasse 4000 Euro, bei intensivpflichtigen Kindern kostet es bis zu 60 000 Euro. Noch dazu muss ich ergänzen, dass wir als Ärzte für das Aufklärungsgespräch, das durchaus umfangreich sein kann, knapp vier Euro abrechnen dürfen. Sollten sich die Eltern dafür entscheiden, dürfen wir knapp neun Euro insgesamt abrechnen. Wir wollen natürlich, dass die Kinder geschützt werden, aber diese Beträge für diese Arbeit sind eine Frechheit.

Ab wann sollten den Eltern mit ihren Kindern zum Kinderarzt? Gibt es da Empfehlungen?

Servatius: Durch „Dr. Google“ werden viele Eltern verunsichert. Dadurch verzeichnen wir inzwischen 1200 Anrufe pro Tag in unserer Praxis. Wir haben zwei bis drei Mitarbeiter, die nur am Telefon sitzen – von morgens bis abends. Eltern rufen uns an, weil ihr Kind im Kindergarten- oder Grundschulalter Fieber hat. Fieber ist nichts Schlimmes und auch die Höhe sagt noch nichts darüber aus, ob ein Arzt gebraucht wird oder nicht. Unter dem Strich ist es wichtig, das Kind zu beobachten und auf sein elterliches Bauchgefühl, seinen Instinkt, zu vertrauen. Wir empfehlen spätestens am dritten Tag Fieber eine ärztliche Vorstellung um nichts zu verpassen. Oder auch das Thema Ohrenschmerzen: Die Eltern rufen an, dass ihr Kind seit zwei Stunden Ohrenschmerzen hat. Da sind die ersten Mittel der Wahl Fiebersaft und Nasenspray. Und auch die Symptome drumherum sind wichtig. Ist das Kind ansonsten fit, trinkt es? Oder liegt es apathisch da. Das ist auch entscheidend.

Ausschläge sind ein ähnliches Thema. Die meisten Ausschläge verschwinden von selbst, jucken nicht, kamen vielleicht mit einer Infektion mit, sind in der Regel harmlos. Da muss nicht gleich am ersten Tag der Kinderarzt konsultiert werden. Einen Punkt möchte ich aber ausdrücklich erwähnen.Wir sprechen hier gerade über Kindergartenkinder oder älter. Ich habe zwei Jahre auf einer Neugeborenen-Intensivstation gearbeitet. Daher weiß ich aus Erfahrung, dass bei Fieber im Neugeborenenalter – das gilt bis vier Wochen nach errechnetem Geburtstermin und auch schon ab 38 Grad – das Kind sofort einem Kinderarzt vorgestellt werden muss. Egal zu welcher Tages- und Nachtzeit. Da kann jede Stunde entscheidend und wichtig für das Kind sein.

Wie sieht es denn mit Grippeimpfungen für Kinder aus? Empfohlen ist sie von der Stiko nur bei Grunderkrankungen des Kindes, der Bundesverband der Kinder– und Jugendärzte fordert, dass alle Kinder eine Impfempfehlung bekommen. Wie sehen Sie das?

Servatius: Ich kann das schon verstehen. Auf der einen Seite geht es einem Kind bei einer Grippe ziemlich schlecht, mit hohem Fieber und so weiter. Man kann da auch nicht viel machen, da eine Grippe von selbst abheilt. Mit der Impfung schützt man das Kind aber auch das Gesundheitssystem, da die Praxen ziemlich überlaufen sind. Man kann diese Forderung also gut nachvollziehen. Wir haben als Praxis entschieden, dass wir alle impfen, die das möchten, aber wir geben keine aktive Empfehlung raus – außer für chronisch kranke Kinder.

Wie „impffreudig“ sind denn die Eltern aktuell? Was beobachten Sie in der Praxis?

Servatius: Wir sind eine ausgewiesene Impfpraxis. Es gibt Erkrankungen, da hilft nur die Impfung, zum Beispiel Tollwut oder Tetanus. Wir stellen fest, dass der Anteil an Skeptikern gestiegen ist. Damit einher geht beispielsweise auch eine Zunahme von Maserninfektionen.

Wir hatten vor kurzem in Kassel wieder einen Ausbruch. Es gibt leider auch unter Ärzten Impfgegner, die dann falsche Atteste ausstellen. Wobei ich betone, dass Skepsis ja nichts Schlechtes ist. Dafür sind wir ja auch da, um aufzuklären und Ängste zu nehmen, die im Internet geschürt werden. Wir haben da aber teilweise schwierige Gespräche und es gab auch Familien, deren Betreuung – außer in Notfällen – wir schließlich abgelehnt haben. Das Vertrauensverhältnis war nach heftigen Konfrontationen zerstört.

Wie steht es denn um die psychologische Versorgung Ihrer Patienten?

Servatius: Es ist eine Katastrophe. Das System war vor Corona schon am Anschlag. Der Umgang mit der Pandemie hat noch mal Öl ins Feuer gegossen. Wir haben einen enormen Anstieg an psychischen und psychiatrischen Erkrankungen. Beginnend bereits bei kleinen Kindern mit psychosomatischen Bauchschmerzen und Kopfschmerzen beispielsweise. Die Älteren entwickeln Angststörungen, wie Trennungsängste, Depressionen und Essstörungen.

Dr. Mark Servatius und die Lorscher Kinderarztpraxis

Servatius ist einer von drei Partner in der Kinderarztpraxis in Lorsch. Weitere Partner sind Dr. Holger Clemen und Dr. Jörg Frey-Kinzinger. Dazu kommen die zwei angestellte Ärztinnen Dr. Carolin Grimm und Dr. Julia Müller.

Frey-Kinzinger hat die Praxis 2003 vom damaligen Lorscher Kinderarzt, Dr. Roland Jost, übernommen. Seit 2016 befindet sich die Praxis auf zwei Etagen in der Ludwig-Erhard-Straße.

Es werden Kinder und Jugendlichen im Alter von 0-18 Jahren versorgt. Dazu gehört das gesamte Spektrum der Kinderheilkunde: Vorsorgen, Impfungen, Akuterkrankungen, Allergologie, Ultraschalluntersuchungen, Sportmedizinische Untersuchungen, Blutentahmen und vieles mehr.

Servatius ist 37 Jahre alt, verheiratet und Vater von zwei Töchter.

Er studierte Humanmedizin in Budapest (2007-2009) und Heidelberg (2009-2014). Die Facharztausbildung absolvierte er an der Kinderklinik in Heidelberg. Seit 2019 ist er in der Kinder- und Jugendarztpraxis in Lorsch. asch

Bei Letzterem spielt der Medienkonsum mit rein – da gibt es Challenges wer am meisten abnimmt. Wir haben Kinder- und Jugendpsychiater, die haben Wartezeiten von einem Jahr. Selbst Kinder mit suizidalen Gedanken finden keinen zeitnahen Therapieplatz. Wir als Kinderärzte sind gar nicht dafür ausgebildet, diese Kinder zu behandeln. Und die Eltern fühlen sich natürlich auch hilflos.

Übergewicht bei Kindern nimmt zu – was würde denn Ihrer Meinung nach helfen, um diesem Trend entgegen zu wirken?

Servatius: Das ist natürlich auch ein gesellschaftliches Thema. Alles ist immer verfügbar und durch die digitale Welt bewegen wir uns weniger. Vor drei Jahren habe ich eine Fortbildung zum Adipositas–Trainer gemacht, weil ich im Schwimmbad erschrocken bin, wie viele krankhaft übergewichtige Kinder es gibt. Ich habe da eine Vision.

Es gab ein Dorf in Schweden, das als fettestes Dort des Landes galt. Es wurde ein Programm ins Leben gerufen, mit dem die Menschen wirklich abgenommen haben. Und so etwas hätte ich gerne für Lorsch. Mit gesundem, gemeinsamen Mittagessen in Kindergärten und Schulen sowie einem niedrigschwelligem Sportangebot. Anfänge gibt es, aber ich würde gerne mehr machen. Ich habe da einige Ideen. Ich würde mir vor allem wünschen, dass Kinder besser über Ernährung aufgeklärt werden.

Wie ausgelastet sind Sie denn aktuell in Ihrer Praxis?

Servatius: Wir sind eigentlich immer voll ausgelastet. Wir nehmen auch nur noch Erstgeborene ab U2/U3 aus dem Kreis Bergstraße auf. Wenn schon ein Geschwisterkind da ist, das bei einem anderen Arzt in Behandlung ist, dann verweisen wir auf die Praxis, in die die Familie bereits geht. Auch Zugezogene von weiter weg nehmen wir noch auf. Wir sind drei Partnerärzte in der Praxis und haben zwei angestellte Ärztinnen.

Wir betreuen aktuell rund 250 Patienten pro Tag und bekommen täglich Anfragen, ob wir neue Patienten aufnehmen. Bei uns melden sich Eltern mit dem positiven Schwangerschaftstest, weil sie Angst haben, dass sie keinen Kinderarzt finden, wenn das Kind geboren wird. Wir würden sehr gerne noch weitere Kinderärzte anstellen, hätten auch genug Arbeit, wir bekommen von der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) aber nicht mehr Stellen im Kreis genehmigt. Die Praxissitze werden von der KV nach der Anzahl der Kinder in einem Gebiet festgelegt.

Wie sieht es denn mit der Vergütung der Kinderärzte aus?

Servatius: Es gab eine Steigerung der Vergütung von zwei bis drei Prozent, aber das reicht nicht, die steigenden Kosten zu decken und am Ende zahlen wir drauf. Wenn wir gute Fachkräfte haben wollen, müssen wir die auch übertariflich bezahlen. Wir als Kinderärzte fühlen uns nicht wertgeschätzt, da wir zum Dumping-Preisen Leistungen erbringen sollen. Wir wollen den Kindern die bestmögliche Versorgung zukommen lassen, aber manchmal sind politische Entscheidungen ein Schlag ins Gesicht. Wir haben vor 1,5 Jahren auch schon die Praxis geschlossen und gestreikt. Das kann auch so nicht weitergehen.

Es gibt Praxen, die stehen vor dem finanziellen Ruin. Ein Beispiel: Für die Jugend–Arbeitsschutzuntersuchung bekam man 1976 knapp 46 DM, heute sind es rund 23 Euro – und das ist eine große Untersuchung. Der Jugendliche ist eine Stunde in der Praxis. Inzwischen haben wir als Kinderarztpraxis entschieden, wir rechnen diese Untersuchung nicht mehr über die Kasse ab. Das ist jetzt eine sogenannte Igel-Leistung, die der Patient selbst tragen muss und kostet um die 80 Euro. Sonst zahlen wir bei jeder Untersuchung drauf.

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Anderes Problem sind ambulante HNO-Operationen bei Kindern. Für eine solche OP erhält der Facharzt gerade mal 85 Euro. Davon muss bis auf die Medikamente alles bezahlt werden. Das können die HNO-Ärzte wirtschaftlich nicht leisten, lehnen die OPs ab und ich muss meine Patienten in die Klinik schicken. Da sind die Wartezeiten bis zu 1,5 Jahre. In dieser Zeit kann es sein, dass das Kind wegen eines Paukenergusses oder einer chronischen Mittelohrentzündung schlecht hört und dadurch in der Sprachentwicklung verzögert ist. Und weil die Kinder mit ambulanten OPs die Kliniken fluten, gibt es dann dort auch Beschränkungen. Die Heidelberger HNO-Klinik nimmt nur noch Heidelberger Kinder auf. Das fördert dann wiederum den Medizin–Tourismus, da in den östlichen Bundesländern noch Termine in den Kliniken verfügbar sind.

Ein weiteres Thema ist die Abrechnung von Privatpatienten. Die Vergütung wurde seit 1996 nicht mehr aktualisiert. Das ist, wir dürfen nur so viel abrechnen, wie bereits vor rund 30 Jahren. Da ist das Gesundheitssystem an vielen Ecken eine Katastrophe. Die Eltern sind auch verzweifelt.

Wie sehr macht Ihnen die Bürokratie zu schaffen?

Servatius: In diesem Zusammenhang ist ein Punkt wirklich wichtig: Das Thema Schulatteste. Im Schulgesetz steht drin, dass Kinder sind bis zum 18. Geburtstag von ihren Eltern zu entschuldigen sind, wenn sie die Schule nicht besuchen können. Nur in begründeten Ausnahmefällen darf ein ärztliches Attest verlangt werden. Ich habe hier Mädchen mit Menstruationsbeschwerden, Schüler mit Magen–Darm–Infekten und Kopfschmerzen in den Praxen sitzen und die Schule erwartet ein Attest. Und die kommen häufig tatsächlich nur in die Praxis, weil die Schule eben das Attest verlangt. Ich habe vielleicht deshalb einem Patienten abgesagt, der wirklich meinen Ärztlichen Rat braucht. Wir möchten Medizin und keine Bürokratie machen. Wir möchten Kindern einfach helfen.

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