Monatskalender 2018 - BA-Fotograf Thomas Neu holt Aufnahmen aus der Region aus den Archiven und stellt den Motiven Fotos aus gleichen oder ähnlichen Blickwinkeln gegenüber

Bergsträßer Ansichten im Lauf der Zeit

Von 
Karl-Heinz Schlitt
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Bergstraße. Die Älteren erinnern sich gewiss: An die Zeit, als noch Pferdekutschen über die Bensheimer Mittelbrücke rollten. Als der Bereich um den Hospitalbrunnen noch keine Fußgängerzone war und der spätere Beauner Platz im Volksmund schlicht "Anlage" hieß. Es war die treffende Bezeichnung für eine innerstädtische Grünfläche - ohne Bürgerhaus, Parktheater, Speckhardt-Brunnen und rotes Pflaster.

Motive von Lorsch bis Lindenfels

Für die Jüngeren kaum vorstellbar ist auch, dass auf dem Ritterplatz, dem heute so viel befahrenen Verkehrsknoten im Zentrum, Autos in zwei Reihen parkten. Und kein Mensch dachte nur im Traum daran, dass das Lorscher "Kapellchen", wie die geschichtsträchtige Torhalle wenig respektvoll genannt wurde, einmal zum Hauptanziehungspunkt der heutigen Welterbestätte Kloster Lorsch herausgeputzt wird.

Gerade das letzte Beispiel zeigt, dass nicht alles schlechter, sondern vieles sogar besser geworden ist im Lauf der Zeit. Das gilt auch für Zwingenberg, das älteste der Bergstraßenstädtchen, wo zum Beispiel der Obergasse frisches Leben eingehaucht und die über allem thronenden Bergkirche von Grund auf saniert wurde. Nicht zu vergessen Lindenfels, die "Perle des Odenwalds", aber auch Kleinode im vorgelagerten "Tälchen", wie etwa die evangelische Kirche mit ihrem markanten Zwiebelturm an der Nibelungenstraße in Reichenbach.

Aber es gibt auch eine Menge Ecken, wo größere und kleine Schmuckkästchen von der Bildfläche verschwunden sind: mittelalterliche Fachwerkhäuser und Postkartenidylle wie aus dem Bilderbuch.

Der BA-Fotograf Thomas Neu hat einige davon aufgespürt und auf Kalenderblättern verewigt: wie den Schnappschuss vom Sonntagsspaziergang auf der Flaniermeile der ehemaligen Sommerresidenz der Landgrafen und Großherzöge von Hessen-Darmstadt in Bensheim-Auerbach. Die Herren der Schöpfung tragen Frack und Zylinder zur Schau, die Damen und Kinder spazieren im wallenden, weißen Kleid und natürlich mit Hut nebenher. Das Ensemble des heutigen Staatsparks Fürstenlager selbst - samt seiner prachtvollen Gartenkunst - hat sich seit der wilhelminischen Epoche, aus der besagtes Foto stammt, so gut wie nicht und schon gar nicht substanziell verändert.

Das trifft, zumindest was die Fassade anbelangt, auch für den vom Mainzer Dombaumeister Ludwig Becker entworfenen Gebäudekomplex zu, in dem einst das Bischöfliche Konvikt untergebracht war. Seit Mitte der 1980er Jahre residiert hier die Stadtverwaltung.

Das ursprüngliche Rathaus - bevor die Stadtverwaltung vorübergehend in den Rodensteiner Hof umzog - stand dort, wo es im Mittelalter meistens seinen Platz fand: am Rand des Marktplatzes, in unserem Fall als östliche Begrenzung.

Nachdem der Zahn der Zeit unerbittlich am alten Gemäuer genagt hatte, bescherte der Architekt Heinrich Metzendorf den Bensheimern einen städtebaulichen Glanzpunkt von allerdings nur kurzer Dauer. Im Bombenhagel in der Endphase des Zweiten Weltkriegs blieb von der Anfang des 20. Jahrhunderts errichteten Hinterlassenschaft des "Baumeisters der Bergstraße" kaum ein Stein auf dem anderen.

An dem Gebäude, das seit Ende der 1970er Jahre die Lücke schließt, scheiden sich seitdem mit wechselnder Ausprägung die Geister - neuerdings mehr denn je, wie die kontroverse öffentliche Debatte über aktuelle Abriss- und Neubaupläne offenlegt. Das "Haus am Markt" wird - egal, was damit geschieht - vielen Bensheimern ein Dorn im Auge bleiben.

Freier Autor

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