Berlin. Es ist das erste große Interview, das Lars Klingbeil seit der Wahl gibt. Dem 47-jährigen Niedersachsen gelang das Kunststück, das 16,4-Prozent-Debakel der SPD in einen persönlichen Machtzuwachs zu verwandeln, sich neben dem Partei- auch den Fraktionsvorsitz zu sichern. Jetzt hofft er, dass die SPD-Mitglieder dem Koalitionsvertrag mit der Union zustimmen – und Schwarz-Rot ein anderes Schicksal nimmt als die Ampel. Doch Konflikt ist programmiert.
Herr Finanzminister- und Vizekanzlerkandidat … so dürfen wir Sie doch anreden?
Lars Klingbeil: Gerne einfach Herr Klingbeil. Ich bin sehr froh, dass wir zügig einen vernünftigen Koalitionsvertrag verhandeln konnten. Jetzt entscheiden die SPD-Mitglieder, und wenn sie dem Koalitionsvertrag zustimmen, werden wir entscheiden, wer welche Verantwortung übernimmt in Partei, Fraktion und Regierung. Die SPD hat dafür eine Menge guter Leute.
Sind Sie unsicher, ob die SPD-Mitglieder zustimmen?
Klingbeil: Ich habe Respekt davor, dass die Mitglieder entscheiden – und werbe aus Überzeugung nach den Verhandlungen für eine Zustimmung.
Es gibt erheblichen Widerstand gegen ein Bündnis mit der Union, gerade bei den Jusos. Was ist ein gutes Ergebnis?
Klingbeil: Ich erfahre auch viel Zuspruch zum Koalitionsvertrag. Entscheidend ist, dass viele abstimmen. Ein mehrheitliches Ja ist ein gutes Ergebnis.
Der Streit in der Ampel hat viel Vertrauen gekostet. Viele haben sich abgewandt von der demokratischen Mitte.
Wie nennen Sie eigentlich die neue Koalition? Für GroKo ist sie zu klein ...
Klingbeil: Es ist eine schwarz-rote Koalition. Wir haben uns sicher nicht gesucht, wir haben hart gegeneinander Wahlkampf gemacht. Aber das Ergebnis war ein Auftrag, dass wir zusammenkommen und Brücken bauen. Wenn das zwischen CDU, CSU und SPD gelingt, dann sollten wir jetzt auch eine Koalition sein, die im ganzen Land dazu beiträgt, dass es wieder mehr Miteinander gibt und nicht überall das Trennende gesehen wird.
Die Koalition will bis zum Sommer – so das erklärte Ziel – eine andere Grundstimmung in Deutschland schaffen. Wie soll das gelingen?
Klingbeil: Der Streit in der Ampel hat viel Vertrauen gekostet. Viele haben sich abgewandt von der demokratischen Mitte. Ich möchte meinen Teil dazu beitragen, dass das anders wird und in der nächsten Legislaturperiode die entscheidenden Dinge angepackt werden. So kann man die Stimmung drehen.
Konkret?
Klingbeil: Das 500-Milliarden-Euro-Investitionspaket ist unsere Chance, ein Comeback einzuleiten. Das kann der entscheidende Durchbruch werden, auf den wir viele Jahre gewartet haben. Damit unser Land wieder besser funktioniert und vorankommt. Aber Geld allein reicht nicht. Es muss auch sinnvoll und wirksam im Sinne der Bürgerinnen und Bürger und der Wirtschaft eingesetzt werden. Alles muss schneller und effizienter werden in unserem Land. Wir wollen schnelle Erfolge, die die Bürgerinnen und Bürger in ihrem Alltag sehen und spüren. Dafür haben wir jetzt die Weichen gestellt.
Reicht das, um die AfD in Schach zu halten? In manchen Umfragen ist sie schon stärkste Kraft.
Klingbeil: Die Bagger müssen rollen und die Faxgeräte entsorgt werden. Das ist der Spirit, den wir brauchen. Dann wird Deutschland besser, effizienter und gerechter. Das Kopfschütteln über die Bahn, kaputte Brücken oder absurde Bürokratie ist doch längst ein Demokratieproblem.
Führende Unionspolitiker suchen einen neuen Umgang mit der AfD – und wollen ihr auch den Vorsitz von Parlamentsausschüssen überlassen ...
Klingbeil: Ich bin irritiert über diese Diskussion, die unnötig und falsch ist. Jens Spahn und andere in der Union sollten sich darauf konzentrieren, was wir für unser Land erreichen wollen. Das ist übrigens auch ein Foulspiel gegen Friedrich Merz, wenn solche Debatten in der Union gestartet werden, kurz nachdem er mit uns einen Koalitionsvertrag ausgehandelt hat. Ich kann nur sagen, eine Normalisierung mit der AfD wird es von sozialdemokratischer Seite nicht geben. Ich werde meine Hand im Bundestag nicht für einen AfD-Politiker heben. Das ist keine normale Partei. Die AfD spaltet dieses Land und macht Politik auf dem Rücken von Minderheiten. In der Union sind offenkundig noch nicht alle in dem Modus angekommen, dieses Land gestalten und regieren zu wollen.
Sie haben alle Vorhaben im Koalitionsvertrag – von Steuersenkungen bis Mütterrente – unter Finanzierungsvorbehalt gestellt. Was kippt der Finanzminister als Erstes, wenn das Geld nicht reicht?
Klingbeil: Wir bringen das größte Investitionsprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik auf den Weg. Das wird unser Land stärker machen. Aber im Haushalt ist nicht Jahrmarkt. Wir müssen Prioritäten setzen: Die Wirtschaft ankurbeln und die Fleißigen in den Mittelpunkt rücken, damit sich Anstrengung lohnt – ob im Job, in der Familie oder in der Integration. Und Entlastungen für kleine und mittlere Einkommen ermöglichen.
Friedrich Merz sagt, die Entlastung kleiner und mittlerer Einkommen sei nicht fix.
Klingbeil: Wir haben politische Verabredungen zwischen den drei Parteien getroffen, und die gelten. Das bedeutet, wir entlasten kleinere und mittlere Einkommen genauso wie die Unternehmen.
Für Merz sind auch 15 Euro Mindestlohn nicht fix.
Klingbeil: Ein Mindestlohn von 15 Euro wird 2026 erreicht, wenn die Mindestlohnkommission sich selbst ernst nimmt und umsetzt, was in ihrer Geschäftsordnung steht.
Und wenn nicht – greifen Sie wieder politisch ein?
Klingbeil: Wir haben einen politischen Eingriff gemacht, als wir den Mindestlohn auf 12 Euro erhöht haben. Der Weg über die Mindestlohnkommission ist uns Sozialdemokraten der liebste. Aber wir haben auch erlebt, dass die Arbeitgeberseite das Gremium politisiert und die eigene Position durchgedrückt hat. Ich bin sicher, dass sich das nicht wiederholt.
Union und SPD haben vereinbart, auf Steuererhöhungen zu verzichten. Geben Sie Ihr Wort, dass es dabei bleibt?
Klingbeil: Wir haben uns in den Verhandlungen dafür stark gemacht, dass sehr vermögende und sehr gut verdienende Menschen gerade in diesen Zeiten eine höhere Verantwortung übernehmen. Über den Solidaritätszuschlag für die obersten zehn Prozent der Einkommen ist das gewährleistet. Ich habe jetzt aber auch zur Kenntnis genommen, dass Friedrich Merz öffentlich gesagt hat, dass man Steuererhöhungen nicht für alle Zeit ausschließen kann. Insofern gilt, dass wir die finanzielle Situation immer wieder neu bewerten werden.
In turbulenten Zeiten kann man nichts grundsätzlich ausschließen, sonst legt man sich unnötig Fesseln an.
Die Steuern können also durchaus steigen.
Klingbeil: Die Vereinbarung lautet: keine Steuererhöhungen. Aber ich habe in der Ampelkoalition erlebt, was es bedeutet, wenn man sich finanziell festgemauert hat. Ich erwarte, dass wir immer die Offenheit haben, in der Koalition über die aktuelle Lage zu reden und über die Dinge, die notwendig und sinnvoll sind. Das vorderste Ziel bleibt, dass wir Deutschland und Europa stark machen und dass wir dafür auch die finanziellen Mittel haben. In turbulenten Zeiten kann man nichts grundsätzlich ausschließen, sonst legt man sich unnötig Fesseln an.
Die Weltlage ist jetzt schon dramatisch. Wie lässt sich der russische Aggressor abschrecken, wenn die USA als Schutzmacht ausfallen?
Klingbeil: Auf Deutschland kommt eine hohe Verantwortung zu, Europa stark zu machen. Wir haben die finanziellen Möglichkeiten geschaffen, die Bundeswehr auf Vordermann zu bringen und in unsere Sicherheit zu investieren. Wir sind der größte Unterstützer der Ukraine in Europa und werden das auch künftig bleiben.
Wie viel wird Deutschland tatsächlich für Verteidigung ausgeben? Fünf Prozent der Wirtschaftsleistung, wie Donald Trump verlangt?
Klingbeil: Wir richten uns an den Nato-Zielen aus. Jetzt gerade sind es zwei Prozent, die wir auch erfüllen.
Sie führen einen neuen Wehrdienst ein. Wie lange wird er freiwillig sein?
Klingbeil: Wir müssen die Attraktivität der Bundeswehr steigern. Ich bin mir sicher, über diesen Weg wird man ausreichend Freiwillige finden. Nur ein Beispiel: Warum sollte man beim Bund nicht wieder kostenlos den Führerschein machen können?
Wird die Bundeswehr als Freiwilligenarmee kriegstüchtig?
Klingbeil: Es ist unsere Aufgabe, die Bundeswehr zu einem attraktiven Arbeitgeber zu machen, unsere Soldatinnen und Soldaten gut auszustatten mit moderner Ausrüstung und der Truppe die öffentliche Wertschätzung entgegenzubringen, die sie verdient hat. Das stärkt unsere Verteidigungsfähigkeit.
Können Sie sich deutsche Soldaten in der Ukraine vorstellen?
Klingbeil: Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir deutsche Soldaten in diesen Krieg schicken.
Auch nicht, um eine Friedensvereinbarung zu sichern?
Klingbeil: Das wäre der 47. Schritt vor dem ersten. Im Augenblick gibt es keinerlei Anzeichen, dass Putin zu Friedensverhandlungen bereit ist. Er hat abgelehnt, was Trump ihm angeboten hat. Es geht jetzt weiter darum, verlässlich an der Seite der Ukraine zu stehen. Deutschland muss größter militärischer Unterstützer der Ukraine in Europa bleiben.
Gehört dazu die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern?
Klingbeil: Wir haben in den Koalitionsverhandlungen keine Vereinbarungen über einzelne Waffensysteme getroffen. Das war auch nie Thema in den Gesprächen.
Bleiben Sie bei Ihrem Nein?
Klingbeil: Die Position der SPD ist bekannt.
In der Ampel war Taurus eine Kanzler-Entscheidung von Olaf Scholz. Wird jetzt Friedrich Merz, der liefern will, allein entscheiden?
Klingbeil: Wichtige außenpolitische Entscheidungen werden in einer Regierung im Konsens getroffen. In der Union gibt es dazu ja auch keine einheitliche Position.
Herr Klingbeil, Sie haben auf Tiktok ein Foto von sich veröffentlicht und dazu geschrieben: ‚Ich bin Lars und Feminist.‘ Wie viele Kabinettsposten können die Frauen in der SPD daraus ableiten?
Klingbeil: Nach dem Mitgliederentscheid werden wir eine Liste für das Kabinett vorlegen. Aber gehen Sie mal davon aus, dass die SPD die Parität als selbstverständlich ansieht. Ich tue es.
Bedeutet, Frauen bekommen vier der sieben SPD-Ministerien?
Klingbeil: Jedenfalls wird niemand sagen können, die SPD habe sich nicht an die Parität gehalten.
Was wird aus Saskia Esken? Kabinett? Partei? Weder noch?
Klingbeil: Ich habe immer deutlich gemacht, dass ich gerne mit Saskia Esken zusammenarbeite. Es passt aber nicht ins Jahr 2025 und zu meinem Verständnis, dass Männer in der Öffentlichkeit über die Zukunft von Frauen spekulieren.
Sie haben sich noch in der Nacht des Wahldebakels – es war das schlechteste SPD-Ergebnis seit 138 Jahren – den Fraktionsvorsitz gesichert. Seither werden Sie mit Francis Underwood aus der Netflix-Serie „House of Cards“ verglichen, der es mit Netzwerken und Intrigen bis zum US-Präsidenten bringt. Wie groß ist Ihr Machthunger?
Klingbeil: Also, ich lese manche dieser Kommentare und muss dann auch schmunzeln. Der Impuls, dass ich den Fraktionsvorsitz übernehme, ging von Rolf Mützenich aus. Die letzten Wochen haben gezeigt, dass diese Klarheit aufseiten der SPD in den Verhandlungen wichtig war. Aber das heißt nicht, dass wir die 16,4 Prozent zu den Akten legen. Glauben Sie mir, ich selbst habe das größte Interesse daran, dass das schonungslos aufgearbeitet wird. Diese Arbeit hat parallel bereits begonnen mit der Beteiligung aus allen Ebenen und Landesteilen der Partei. Wir müssen aus Fehlern lernen – und die personellen, organisatorischen und programmatischen Weichen so stellen, dass wir bei der nächsten Bundestagswahl deutlich besser abschneiden. Das haben wir nach der Bundestagswahl 2017 getan und waren damit 2021 erfolgreich.
Die Frage nach Ihrem Machthunger ist noch offen.
Klingbeil: Es geht immer um Verantwortung, und ich habe deutlich gemacht, dass ich Verantwortung übernehmen und das Land mitgestalten möchte. In den letzten Wochen ist es mir mit anderen zusammen gelungen, einiges für das Land und die Sozialdemokratie zu erreichen.
Und bei der nächsten Wahl sind Sie der Kanzlerkandidat?
Klingbeil: Die neue Regierung ist noch nicht mal im Amt. Ein nächster Wahlkampf ist hoffentlich noch sehr weit weg.
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