Zwingenberg. Angesichts der hohen Gaspreise hofft Deutschland auf einen milden Winter. Und auf eine erfolgreiche Umsetzung der von der Bundesregierung eingeleiteten Maßnahmen zur Energieversorgung von Privathaushalten und der Wirtschaft. Das von der Experten-Kommission geschnürte Modell für eine Deckelung der Gaspreise sei ein Schritt in die richtige Richtung, kommentierte Jörg Rothermel in Zwingenberg aus der Geschäftsleitung des Verbands der Chemischen Industrie (VCI) in Frankfurt.
Bei der „Liberalen Runde“ der örtlichen FDP sprach er von einem wichtigen Signal für die kommenden Monate. Einen physischen Gasmangel befürchtet er zunächst nicht, die Speicher seien randvoll. Doch der nächste Winter kommt bestimmt. Zum Jahreswechsel 2023/24 könnte es dann wirklich eng werden im Lande, so der promovierte Chemiker, der sich beim VCI als Abteilungsleiter Energie, Klimaschutz und Rohstoffe täglich mit dem Thema beschäftigt.
Denn dann werden die Reste der letzten russischen Lieferungen vom Sommer dieses Jahres, die aktuell noch zur Versorgungssicherheit beitragen, längst aufgebraucht sein. „Deutschland wird die Krise noch deutlich länger zu spüren bekommen“, so Rothermel vor rund 20 Gästen im „Bunten Löwen“, die von FDP-Vorstandsmitglied Nick Diefenbach begrüßt wurden. Es gehe daher zuvorderst um die zügige Beschaffung von Nachschub. Und dafür muss sich Deutschland auf langfristige Flüssiggaslieferverträge einlassen.
Schlüsselaufgabe
In ganz Europa forcieren die Regierungen den Einsatz von schwimmenden LNG-Terminals, deren Aufbau nur einen Bruchteil der Zeit in Anspruch nimmt, die für die landseitige Variante benötigt wird. Deutschland, das früher mehr als die Hälfte seiner Gasbezüge über Pipelines aus Russland bezog, chartert jetzt mehrere dieser Speicher- und Regasifizierungseinheiten. Zuvor sah man keine Notwendigkeit darin, teure LNGs zu bauen, weil man billiges Gas über Nord Stream 1 via Osteuropa bis vor die Haustür geliefert bekam.
Die Terminals versetzen Flüssiggas wieder in einen gasförmigen Zustand. Doch die Schlüsselaufgabe liege nun darin, wie diese Terminals zu einem vernünftigen Preis mit Importen gefüllt werden können, so der Verbandsvertreter in Zwingenberg. Wer in LNG investiert, trage auch das Risiko, dass diese Einheiten im Falle einer Rückkehr zur Pipeline-Versorgung im Wortsinn überflüssig werden. Auf der anderen Seite gibt es weiterhin Einschränkungen, wie viel LNG-Gas Europa überhaupt importieren kann, denn auch zahlreiche asiatische Staaten stehen mit den Europäern im Wettbewerb.
Warnung vor dem „Ausverkauf“
In der „Liberalen Runde“ der Zwingenberger FDP wurde auch die Studie des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) diskutiert. Vereinfacht gesagt halten die beteiligten Ökonomen es für möglich, dass die deutsche Industrie noch einmal 25 Prozent weniger Gas verbraucht, ohne nennenswert Umsatz zu verlieren.
Die Herstellung der 300 Produkte mit dem höchsten Gasverbrauch verursache knapp 90 Prozent des gesamten Gasverbrauchs der deutschen Industrie, heißt es darin. Die Idee: Diese Produkte sollten überhaupt nicht mehr in Deutschland hergestellt werden, um bei geringen finanziellen Verlusten viel Energie zu sparen. Davon wäre vor allem die chemische Industrie betroffen.
Der VCI widerspricht heftig. Auch Jörg Rothermel schüttelte in Zwingenberg den Kopf. Dies würde die Branche enorm gefährden und die Abhängigkeit von Importen steigern. Ein solcher „Ausverkauf“ wäre ein fatales Zeichen für die heimische Chemieindustrie. Die Studie beziehe sich vor allem auf die Produktebene und vernachlässige die Komplexität ganzer Wertschöpfungsketten. An vielen Chemiestandorten seien Produktionsprozesse aber sehr eng verzahnt. tr
Fest steht: Gas ist essenziell – nicht nur für die Bürger, die gerne in der warmen Stube sitzen, sondern auch für die Industrie. Und hier in erster Linie die chemische. Sie ist der größte Gasverbraucher in Deutschland. Allein 15 Prozent des insgesamt verbrauchten Gases wird in der Produktion eingesetzt. Und zwar nicht nur zur Erzeugung von Wärme und Strom, sondern auch als Rohstoff: denn aus Erdgas werden zahlreiche Produkte hergestellt, so Rothermel.
Zum Beispiel das kleine Molekül Ammoniak, aus dem Düngemittel oder Kunststoffe hergestellt werden. Ammoniak ist die am stärksten von Erdgas abhängige Grundchemikalie. Aber auch Methanol und Wasserstoff werden für viele Prozesse in der chemischen Industrie verwendet. „Unsere Unternehmen sind in Sorge, weil sie sehr abhängig sind von Gas und keine wirklichen Alternativen sehen“, so der VCI-Mann. Langfristig sei es durchaus möglich, dass man sich von der Abhängigkeit vom fossilen Kohlenstoff im Erdgas oder Öl befreit. Auf kurze Distanz sei aber kein Ersatz in Sicht. „Wir können uns ja nicht selbst dekarbonisieren“, so Rothermel über den Bedarf seiner Branche an Kohlenstoff.
Am Ende des Tages werde auch der Verbraucher einen Mangel spüren, wenn er denn eintritt, denn die Palette an Produkten aus der Chemie ist gewaltig und reicht von allen möglichen Kunststoffen über Farben und Waschmittel bis zum Diesel-Zusatzstoff AdBlue und vielen Kosmetika. Auch die Pharmazeutische Industrie wäre von Versorgungsengpässen unmittelbar betroffen. Und wenn die Chemie den Gasverbrauch drosseln muss, dann wird auch die Produktion heruntergefahren, die bereits jetzt um rund zwölf Prozent eingebrochen sei. In einigen Segmenten gar um 20 Prozent.
VCI befürwortet Fracking
Um Industrie und Privathaushalte mit Gas zu versorgen und dennoch die Klimaziele nicht aus den Augen zu verlieren, dürfe man alternative Möglichkeiten nicht per se ausschließen, so Jörg Rothermel, Mitglied der Geschäftsleitung des Verbands der Chemischen Industrie (VCI) in Frankfurt bei der „Liberalen Runde. Denn auch Deutschland hat große Gasvorkommen, aber vor allem in tiefen Gesteinsschichten. Um diese zu fördern, müsste das umstrittene Fracking eingesetzt werden.
Der FDP-Finanzminister Christian Lindner hatte bereits mehrfach gefordert, das Verbot aufzuheben. Und auch Jörg Rothermel sieht die Fördermethode als Chance, Engpässe quasi aus dem eigenen geologischen Keller abmildern zu können. An mehreren Standorten sei umweltverträgliches Fracking möglich, ohne das Grundwasser zu gefährden, sagte er. Die hydraulische Methode nutzt die Hilfe von Wasserdruck und Chemikalien, um Gas aus tiefen Gesteinsschichten zu gewinnen. Als Folgen für die Umwelt befürchten Kritiker einen hohen Wasserverbrauch sowie eine potenzielle Verschmutzung des Grundwassers bis hin zu Erdbeben. Viele europäische Länder haben ihre Fracking-Pläne auf Eis gelegt. tr
Die Chemieunternehmen in Deutschland haben sich in den vergangenen Jahrzehnten immer stärker abhängig von russischem Erdgas gemacht. Jetzt müssen sie umdenken. Zwangsläufig. „Es herrscht Alarmstimmung“, so Jörg Rothermel, dessen Blick auch über den nationalen Tellerrand hinausgehen muss. Denn um international wettbewerbsfähig bleiben zu können, reiche eine Deckelung des Gaspreises auf sieben Cent pro Kilowattstunde nicht aus. Dies sei zwar gut für kleine und mittelständische Unternehmen, doch global aktive Großkonzerne hätten damit auf dem Weltmarkt keine Chance.
Grüner Strom, aber preiswert
Da die Industriewärme für etwa ein Viertel des Erdgasverbrauchs in Deutschland verantwortlich ist, gilt als naheliegendste Alternative grüner Strom aus erneuerbaren Energien. Aber auch hier komme es auf eine Preisgestaltung an, die der Wirtschaft Wettbewerbsfähigkeit ermöglicht. Der VCI plädiert für einen regulierten Industriestrompreis in Höhe von vier Cent.
„Daran werden wir nicht vorbeikommen!“ Denn die Branche leiste ihren Beitrag zur Treibhausgasreduktion und wolle nun bis 2050 treibhausgasneutral werden, so Rothermel. Doch dafür benötigt sie mehr als 500 Terrawattstunden erneuerbaren Strom zu moderaten Preisen. Um die Abhängigkeit von Importen zu reduzieren, haben die Unternehmen ihren Verbrauch bereits deutlich reduziert. Weiteres Potenzial bieten Brennstoffwechsel, wo dies technisch und durch schnelle Genehmigungen möglich ist. Solange die Gaskrise andauert, sollten alle verfügbaren Möglichkeiten zur Stromerzeugung ans Netz, heißt es vom VCI.
Parallel zum Ausbau der erneuerbaren Energien sollten mindestens bis Ende des Winters 2023/24 sowohl die verfügbaren Braun- und Steinkohlekapazitäten als auch die letzten drei deutschen Kernkraftwerke ans Netz, um die Versorgungssicherheit zu stärken und die Preise auf einem verträglichen Niveau zu halten, so Rothermel weiter. Strom werde in Zukunft immer wichtiger, zum Beispiel für die Elektrifizierung industrieller Prozesse. Für eine erfolgreiche Transformation zur Klimaneutralität bedarf eines niedrigen Strompreises.
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