Lorsch. „Noch fünf Minuten, dann geht es weiter“, rief Lehrerin Mechtild Brettinger ihren Viertklässlern gestern Vormittag auf dem Benediktinerplatz zu. „Nein“, erklärten einige ihrer Schüler wenig erfreut, die den Deutsch-Unterricht gerne noch länger draußen und inmitten von Bücherstapeln verbracht hätten. Denn vor der Königshalle begann gestern die Aktion „Stadt-Lesen“.
Lektüre für den Liegestuhl
Regale mit 3000 Büchern stehen deshalb in der Lorscher Stadtmitte und laden nicht nur Schulklassen, sondern jeden Interessierten zum Blättern und Lesen ein. Dabei kann man es sich gemütlich machen, schließlich gehören zur Aktion auch Liegestühle, Sitzsäcke und Hängematten, auf die man sich mit Lieblings- Büchern verziehen kann.
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Dafür, dass die Auswahl groß ist, sorgen renommierte Verlage, die Titel aus ihren aktuellen Programmen zur Verfügung stellen. Diogenes und Hanser, Suhrkamp und Beck, Carlsen, Loewe und Insel sind zum Beispiel mit dabei. Vor allem für Kinder gibt es reichlich Lesestoff.
Auch die Lorscher Erstklässler von Christine Rettig zeigten sich gestern begeistert von dem Unterricht außerhalb der gewohnten Klassenräume. Natürlich können noch nicht alle ihrer Schützlinge flüssig lesen, räumt die Lehrerin ein. Dass sie aber Spaß an der Aktion haben und stolz sind, wenn sie Buchtexte entziffern können, war deutlich zu sehen. Besonders gefragt bei den Erstklässlern war das Thema Koalas. Solch „falsche Bären“ entdeckten sie etwa in einem Bären-Sachbuch.
Dass die Aktion die Vorfreude aufs Lesen wecken kann, wissen auch Erzieherinnen der Villa Kunterbunt. Sie schauten sich mit ihren Kindern deshalb gestern gerne genau an, was vor ihrem Kindergarten los ist. Über eine Stunde lang beschäftigten sie sich mit dem Bücherangebot.
Manche Schüler hatten sich Fußballgeschichten ausgesucht, Mädchen schmökerten in „Lillifee“-Bänden mit rosaglitzerndem Einband. Zwei Jungs hatten sich in einen spannenden Comic des Splitter-Verlags vertieft. „Brutal“, stellten sie beeindruckt fest.
Kochbücher und Kirchen-Thriller
Wer Zeit hat, kann „Magische Orte in Mitteldeutschland“ kennenlernen, mehr erfahren über das Ultrawandern oder über Tai-Chi und in sehr vielen schönen Kochbüchern neue Rezepte studieren – sogar über die vegane Küche in den USA kann man sich weiterbilden. Man kann nach vielen Romanen greifen, sich in eine attraktive Kulturgeschichte Hamburgs vertiefen – „Zwischen Himmel und Elbe“ heißt sie – oder Hubert Wolfs Buch über Giovanni Ferretti lesen. „Der Unfehlbare“ ist das Werk des Kirchenhistorikers über Papst Pius IX betitelt, das selbst Atheisten wie ein Politthriller fesseln wird, wie der Klappentext verspricht.
So viel Muße, dass er den mehr als 1000 Seiten dicken Band von Egon Christian Leitner „Ich zähle jetzt bis drei“ schafft, wird zwar kaum ein Besucher beim „Stadt-Lesen“ haben. Aber es gibt ja auch ganz schmale Werke, Gedichte von Verena Schindler-Wunderlich etwa.
Man stößt auf Bücher, von denen man nie gedacht hatte, dass es sie gibt, wie „Ernährung für Golfer“ oder ein schwergewichtiges Werk, das schlicht „Eier“ heißt und auf 230 Seiten unzählige Großformatfotos von Eiern als Ursprung des Lebens zeigt.
Ihren Viertklässler habe die Lese-Aktion ebenso wie ihr selbst sehr gut gefallen, berichtete Lehrerin Brettinger. Nach Belieben verlängern konnte die Klasse den Unterricht im Lesezimmer unter freiem Himmel natürlich trotzdem nicht. Wiederkommen aber ist möglich. „Stadt-Lesen“ läuft noch bis einschließlich Sonntag (17.) täglich von 9 Uhr bis Einbruch der Dunkelheit. Heute und morgen liest Bürgermeister Schönung dort zudem Gute-Nacht-Geschichten vor.
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