Lindenfels. Für Ursula von Reuß bedeutete der VW Bulli vor allem eins: Freiheit. Bedingt durch den Zweiten Weltkrieg und die Jahre danach sei es für ihre Generation lange schwierig gewesen, zu reisen, blickt die heute 94-jährige Lindenfelserin zurück.
Dennoch zog es sie immer wieder in die Ferne. Zunächst seien es oft Anhalterfahrten gewesen, gefolgt von Unternehmungen „mit allen möglichen Verkehrsmitteln“ – aber immer örtlich und zeitlich begrenzt. Bis von Reuß und ihr mittlerweile verstorbener Ehemann Hans-Heinrich den Bulli für sich entdeckten – und mit ihm die Freiheit fanden, die sie suchten. Mit im Laufe der Jahre dreien dieser Fahrzeuge unternahm die Familie zwischen 1969 und 2006 abenteuerliche Reisen in verschiedene Winkel dieser Welt.
Alte Fotos als „Sesam-öffne-dich“
Schottland und Frankreich waren unter den Reisezielen. Jede Menge Alben mit Briefen und Bildern von ihren Exkursionen bewahrt die rüstige Rentnerin auf. Bei diesen Touren sei ihr und ihrem Ehemann klargeworden, „dass uns neben der fantastischen Landschaft, der Flora, den Düften, den Märkten mit viel Unbekanntem, am meisten die Treffen mit den Menschen und die Gespräche und Erlebnisse mit ihnen beeindruckt haben“, blickt von Reuß zurück. Von der Gastfreundschaft, die sie erfuhr, könnten sich viele Menschen hierzulande eine Scheibe abschneiden, schreibt sie in ihren Aufzeichnungen.
Am liebsten blickt die gebürtige Hildesheimerin, die 1954 in die Burgstadt kam, aber auf ihre dritte Türkei-Reise mit dem Bulli im Jahr 1988 zurück. Es war eine Spurensuche der besonderen Art. Ihr Vater hatte als Soldat im Ersten Weltkrieg gekämpft und war 1916 zu den Verbündeten ins Osmanische Reich abkommandiert worden. Nach der Niederlage ging es auf beschwerlichen Wegen aus der Umgebung von Bagdad nach Samsun am Schwarzen Meer und von dort zurück in die Heimat.
Von diesem Rückzug hat der Vater viele Fotos gemacht. „Diese erwiesen sich als ein ,Sesam-öffne- dich’“, schreibt seine Tochter heute. Sie und ihr Mann beschlossen, einen Teil der Rückzugsroute der Soldaten zu bereisen – mit dem VW Bulli.
Es lief nicht immer alles reibungslos. Die Fähre von Izmir nach Samsun im Schwarzen Meer erlitt einen Maschinenschaden, so dass die Reisenden von Istanbul aus über Land nach Samsun zu fahren mussten – das alleine ist schon eine Strecke von rund 800 Kilometern. Schon da kam es aber zu Begegnungen, die der Lindenfelserin im Gedächtnis geblieben sind. So traf das Paar bei der ersten Rast zwei junge Deutsch-Türken, die einen BMW und einen Mercedes für ihre Onkel überführten. „Wir fragten nach dem Zustand der Straßen in Samsun, zeigten unsere Fotos, fragten nach ihrem Leben, erzählten von uns“, blickt von Reuß zurück.
Die beiden jungen Männer seien früher weitergereist als das deutsche Paar. „Als wir bezahlen wollten, sagte uns der Wirt, die Jungs hätten uns eingeladen, weil wir uns so für die Türkei interessierten“, sagt die Rentnerin. Eine traurige Fußnote: Die jungen Männer erzählten auch, sie hätten bei einem Brandanschlag in Schleswig-Holstein nahe Verwandte verloren.
Besuch bei der Ex-Friseurin
In Samsun angekommen, wollte von Reuß ihre ehemalige Friseurin besuchen, die mittlerweile in der Türkei geheiratet hatte. „Auf den Bildern meines Vaters war Samsun eine kleine Stadt, ein freier Höhenzug im Hintergrund – aber heute bebaut weit über den Hügel hinaus“, berichtet Bulli-Enthusiastin.
Obwohl sie die Adresse der früheren Friseuse hatten, fanden die Reisenden das Haus nicht. „Wir fahren in die Altstadt: keine Straßennamen, keine Nummern. Der arme Bulli quält sich durch die engen Gassen zwischen all den Waren auf der Erde. Unsere Fahrräder ragten hinten an beiden Seiten je 15 Zentimeter über“, beschreibt von Reuß die zunächst erfolglose Suche. Selbst die Polizei und ein vorausfahrendes Taxi fanden das Haus nicht. Erst ein alter Mann habe helfen können. Er lotste den Bulli zu einer Werkstatt, in der der Ehemann der Friseurin arbeitete. Er rief bei seiner Frau an und die Freude war groß. Das reisende Paar wurde zum Besuch eingeladen – in ein Haus direkt am Meer, mit einem riesigen Obst- und Gemüsegarten. „Wir blieben drei Tage. Der Bus war die größte Attraktion, die beiden größeren Buben hockten fast den ganzen Tag darin“, erzählt von Reuß von dem Eindruck, den der Bulli gemacht hat. Eine Stromleitung von der Küche in den Bus versorgte die Gäste mit Energie. Da die Eltern der Friseurin gerade auf Urlaub aus Deutschland da waren, gab es auch genügend Dolmetscher.
Nach herzlichem Abschied sei die Reise, gut versorgt mit Obst und Gemüse, weitergegangen, wie geplant auf dem Weg der Truppe, fährt die Lindenfelserin fort. „Der Bulli schnurrte, er hat und nie im Stich gelassen.“ Es ging nach Amasya und weiter nach Tokat.
Zeitung in Tokat berichtet
In Tokat ereignete sich eine weitere denkwürdige Anekdote. Die Reisenden betankten den Bulli gerade auf dem Berg oberhalb der Stadt, als neben ihnen ein Wagen hielt. Drei Herren mit Anzügen und Schlips stiegen aus, denen sofort der Kleinbus auffiel. Einer sprach das Paar auf Deutsch an. Im Laufe des Gesprächs wurden die drei – zwei Professoren der Universität Tokat und ein Fotograf – auf die historischen Bilder von der Reise der Soldaten aufmerksam. Da es in Tokat zu jener Zeit kein Stadtarchiv gab, machte der Fotograf auf einem Schemel Aufnahmen von den Bildern.
Nach einem gemeinsamen Essen und einer Stadtrundfahrt im Bulli lud einer der Professoren das Paar zu sich nach Hause ein – dieses Mal wurde über einen Balkon eine Leitung in den Bus gelegt. Diese Geschichte hatte später noch eine Fortsetzung: Wieder zu Hause schickte das Lindenfelser Paar Abzüge der historischen Fotos an den Professor. Der revanchierte sich mit der Zusendung eines Pakets nach Deutschland. Darin unter anderem: Ein Bericht in der Zeitung von Tokat über die Bulli-Reisenden, inklusive Lebenslauf des Vaters der Lindenfelserin, außerdem ein Kalender mit den historischen Bildern, den einer der Professoren herausgegeben hatte.
Polizeischutz in Sivas
Zu einer abenteuerlichen Reise gehören aber auch brenzlige Situationen. In Sivas wollten die Deutschen den Leiter eines Museums treffen – die Verabredung hatte einer der Professoren in Tokat organisiert. Am Museum traf das Paar den Leiter aber nicht an. Im Museumscafé bekamen die beiden nichts zu trinken. Nur langsam dämmerte ihnen, was los war: „Da wir wie immer keine Ahnung hatten, was für ein Wochentag war, hatten wir Tölpel ausgerechnet am Freitag aufnahmen von der wunderschönen Eingangsnische der Moschee gemacht.“
Das war nicht gerne gesehen. Nach dem Ende des Freitagsgebets seien die Männer herausgestürmt und hätten gespuckt und die Touristen angebrüllt, die schnell in ihre „Bulli-Festung“ rannten. Zu jener Zeit seien die Wogen hochgeschlagen, blickt von Reuß zurück: Kurz zuvor war das Buch „Satanische Verse“ von Salman Rushdie veröffentlicht worden, das viele Muslime in Wut versetzte und eine Reihe von Gewalttaten auslöste.
In einem Hotel in Sivas seien Touristen ermordet worden. „Wir hatten keine Lust mehr, in Sivas zu bleiben, denn überall war alles voll mit Militär und Polizeifahrzeugen“, schreibt von Reuß. Das Paar wandte sich an die Ordnungshüter. Nach anfänglichen Sprachschwierigkeiten hätten die Beamten beschlossen, die Touristen aus Sivas wegzubringen – „und wir fuhren stolz unter Polizeigeleit fort“.
All diese Treffen und Erlebnisse wären in dieser Form ohne den Bulli nicht möglich gewesen, ist von Reuß heute überzeugt. Und: „Die Bullis haben uns nie im Stich gelassen. Alle notwendigen Reparaturen konnten wir später zu Hause machen lassen, wie neue Bremsbeläge oder Kupplungen.“ Schweren Herzens habe das Paar seinen letzten Bulli verkauft – nach 300 000 Kilometern mit dem ersten Motor.
Auch wenn sie mittlerweile alleine in Lindenfels lebe, sei sie nicht einsam, sagt die 94-jährige Witwe – weil sie jede Menge Alben mit Briefen und Bildern von ihren spannenden Reisen samt all den Erlebnissen und Begegnungen habe.
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