Lindenfels. „Einer trage des anderen Last“ – Michael Helbig hatte sich dieses Motto für seine Predigt selbst ausgesucht. Der ehemalige Bürgermeister von Lindenfels hielt die Predigt bei einem Gottesdienst in der evangelischen Kirche. Die Kirchengemeinde ließ damit eine Tradition aus der Zeit vor der Corona-Pandemie wieder aufleben: Jeden letzten Sonntag im Monat soll ab sofort wieder eine Person von außerhalb predigen. Helbig machte den Anfang. Die Gestaltung des Gottesdienstes lag in den Händen von Jochen Ruoff, dem Vorsitzenden des Kirchenvorstandes.
Eine Predigt zu dem von Helbig gewählten Thema werden die Gottesdienstbesucher so schnell nicht wieder hören, denn das Thema aus dem Brief des Apostels Paulus an die Galater, zähle nicht zu den Standardthemen für Predigten bei der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, sagte Helbig. Das Motto entspreche aber seiner politischen Gesinnung als Sozialdemokrat, und er versuche selbst, danach zu leben. Bei einem Video-Gottesdienst der evangelischen Kirchengemeinde Winterkasten habe er schon einmal darüber gesprochen. „Aber es war eine andere Predigt“ – auf diese Feststellung legte Helbig Wert.
Dieses Mal zog er eine Parallele zum Sozialstaatsprinzip und führte die Sozialpflicht des Eigentums als Beispiel an. „Hier trägt die Solidargemeinschaft Lasten für diejenigen, die das selbst nicht, oder nur unzureichend können“, lautete seine Aussage. Der Sozialstaatsgedanke gehe unter anderem auf die Anfänge des Christentums zurück.
„Ich würde mir wünschen, das bei uns in Lindenfels, im Landkreis, in Hessen, in Deutschland und in vielen Teilen Europas, das Gejammere, ja das Gemaule, wie schlecht es uns doch gehe und dass früher vieles besser war und nichts mehr funktioniere, aufhört“, so Helbig. Als Beleg führte er an, dass die Menschen hier keine Angst vor Angriffen russischer Drohnen haben müssten. Sie litten weder Hunger noch Durst, könnten ihr Recht vor Gericht durchsetzen und ihre Meinung sagen, ohne ins Gefängnis zu müssen oder Folter oder Verfolgung ausgesetzt zu sein. „Kommt nicht das Wasser in jedes Haus? Wird nicht Müll und Abwasser entsorgt?“, so der Ex-Bürgermeister.
„Ich hatte noch keinen Tag Langeweile“
Michael Helbig ging auch auf seine Zeit als Bürgermeister von Lindenfels ein. „Was wirklich bleibt, sind Beziehungen. Begegnungen. Und Momente, in denen wir einander getragen haben – im Kleinen, im Verborgenen“, sagte er. Und am Rande der Veranstaltung gab er zu: „Ich suche noch so: Wo gehöre ich hin?“. Nach wie vor sei er ein „politisch höchst interessierter“ Mensch.
Sein Kreistagsmandat nimmt Helbig weiterhin wahr. Und er trägt sich mit dem Gedanken, im Herbst einen Kurs als Notfallseelsorger zu absolvieren und danach bei Unglücksfällen traumatisierten Menschen in Notlagen zur Seite zu stehen.
Michael Helbig sieht keinen Widerspruch darin, als römisch-katholisch getaufter Christ in einer evangelischen Kirche zu predigen. „Ich mag die Schlichtheit der evangelischen Kirchen in Lindenfels und auch in Winterkasten“, sagte er.. Sein Taufgelöbnis wolle er deswegen aber nicht ändern.
Derzeit stehe für ihn die Familie im Mittelpunkt. Für sie mache er sich nützlich, er mache Brennholz und habe inzwischen ein zweites Moped zum Schrauben. Sein Resümee aus gut drei Monaten Ruhestand: „Ich hatte noch keinen Tag Langeweile.“
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