heppenheim. Mag das Weinjahr 2010 aus Sicht seines Ertrags den Bergsträßer Winzern auch die eine oder andere Sorgenfalte auf die Stirn treiben, so darf sich König Kunde dennoch auf einen guten Tropfen freuen. Mit einem durchschnittlichen Mostgewicht von deutlich über 80 Grad Oechsle wurde erneut ein respektabler Wert erreicht. Otto Guthier, der Geschäftsführer der Bergsträßer Winzer eG in Heppenheim und Vorsitzender des Weinbauverbandes Hessische Bergstraße, prophezeit einen ebenso fruchtsäurefrischen wie herzhaften Wein.
Gäbe es die Weintaufe noch, die nach vergeblichen Bemühungen um eine Wiederbelebung wohl endgültig nur noch ein von den Chronisten geschriebenes Kapitel der Erinnerung bleiben wird, dann könnte der in den Fässern heranreifende Neue als "Starker Borsch" durchgehen - stark in seiner Qualität in einem mengenmäßig schwachen Herbst, der sich zum zweiten Mal hintereinander so nicht mehr wiederholen darf: "Sonst wird es wirklich eng mit unseren Beständen", heißt es dazu.
Ein von Altstadtfreund Richard Lulay bewahrtes Etikett weist aus, dass der "Starke Borsch" bereits 1937 kreiert worden ist. Der Name hat bis auf den heutigen Tag überlebt und wird von der Winzer eG als ein im Geschmack kräftig mundender Landwein angeboten.
Da war richtig was los
Der in der Feldstraße wohnende Altwinzer Peter Guthier, übrigens der Herr Großpapa der aktuellen Weinkönigin Barbara I., war noch ein Schulbub, als der "Starke Borsch" zum Gewinner der Weintaufe erkoren wurde. Die Erinnerung daran hat sich auch deshalb fest in sein Gedächtnis eingegraben, weil in Heppenheim zu dieser Zeit mit der Namenswahl verbundene Weinlesefeste gefeiert wurden. Da war richtig was los im Städtchen.
An der Tradition wird zwar immer noch festgehalten, dies aber nur noch in internem Kreis, wenn die Weingüter zum Herbstabschluss ihre Helfermannschaften einladen. Bei der Freiberger OHG an der Hermannstraße ging es ziemlich lustig zu. "Wir saßen bis weit in den neuen Tag hinein zusammen", beschreibt Lesehelferin Hanne Vettel die fröhliche Stimmungslage. Serviert wurde bei den Freibergers standesgemäß "Weck, Worscht, Woi".
So mag es auch beim Weinlesefest 1938 gewesen sein, bei dem natürlich in weitaus größerem Stile Gott Bacchus gehuldigt wurde. Im Mittelpunkt des Tages stand ein großer Winzerumzug durch Heppenheims Straßen. Peter Guthier kramte in seinem Archiv und förderte wie zur Bestätigung eine historische Aufnahme von dem Ereignis heraus. Zu erkennen auf dem Festwagen sind neben anderem der "Schmied Arnold", einst eine lokale Größe, ferner Willi Held, Meta Bischoff, Philipp Winkler und Georg Konrad.
Der von zwei leibhaftigen Pferdstärken gezogene, mit bunten Bändern und Rebenlaub geschmückte Motivwagen lief unter dem Motto "Starker Borsch". Wo genau der Kraftprotz gelesen wurde, lässt sich nicht belegen. Recherchen danach wären wohl auch für die Katz. Mit der Lagentreue nahm man es anno 1938 noch nicht so genau.
Früher über zwanzig Einzellagen
Schenkt man der Überlieferung Glauben, dann waren Heppenheims Winzer einst in über zwanzig Einzellagen zugange. Nur noch älteren Weinfreunden sind die Namen Blinzig, Mausnest, Waldkirch, Krück, Ofenloch oder Landberg ein Begriff. Die ebenfalls von der Bildfläche verschwundene Bezeichnung Guldenzoll, einst der bekannteste Tropfen des Weingutes von Hans Strauch, erinnerte an die im hessisch-badischen Grenzverlauf gelegene Weinlage, an der zu Kurmainzer Zeiten für jeden Fuder Wein ein Gulden Zoll erhoben wurde. Es waren die Zeiten der Kleinstaaterei.
Auf nicht weniger Interesse als das Festzugsbild stößt ein von Peter Guthier aufbewahrtes Programm über eine Fastnachtssitzung, zu dem der einstige "Gesellenverein", die jetzige Kolpingfamilie, im Februar 1948 eingeladen hatte. Thematischer Schwerpunkt war der Wein, worauf mehrere in der Einladung abgedruckte Trinksprüche schließen lassen: "Trink nicht in Hast als sei es ein Spiel. Der Weise schießt nicht übers Ziel. Er trinkt bedächtig - aber viel."
Der "Kompensierer"
Gehuldigt wurde während der Sitzung dem "Kompensierer", der bei der Weintaufe für den Jahrgang 1947 das Rennen gemacht hatte. Der Name machte Sinn. Kompensiert wurde mit dem Wein vor allem der Mangel an Dingen, die vor der Währungsreform 1948 für Geld nicht zu haben waren. Liedstrophe: "Schließlich wärd de Woi verwannelt, manches middem oi-gehannelt: Klaader, Schuh fä jedes Alter, fä die Fraa en Strumpfbandhalter." fk
URL dieses Artikels:
https://www.bergstraesser-anzeiger.de/orte/heppenheim_artikel,-heppenheim-starker-borsch-schwaches-jahr-_arid,13836.html
Links in diesem Artikel:
[1] https://www.bergstraesser-anzeiger.de/orte/heppenheim.html