Seit Jahren wird über den Abriss der heruntergekommenen Häuser Nummer 198 und 200 an der Siegfriedstraße diskutiert.
Das mit orangenen Holzschindeln verkleidete Haus Nummer 198 ist markant und stand zeitweise sogar unter Denkmalschutz - was viele Gemüter erregte. Viele Heppenheimer befürworten einen Abriss, um den "Schandfleck" auszumerzen. Seit Jahren wird mit der Wohnbau Bergstraße über die Vorgehensweise diskutiert. Eine wichtige Frage scheint die Diskussion um die Bewohner der beiden Häuser zu sein: Wohin mit den so genannten "Obdachlosen"?
Aufgewachsen in den "Baracken"
Weil die Stadt dort auch Menschen unterbringt, die aus unterschiedlichen Gründen obdachlos wurden - sei es, weil sie ihre Miete nicht mehr zahlen konnten, dem Alkohol verfallen oder zu Hause rausgeflogen waren -, werden die beiden Gebäude als Obdachlosenunterkunft bezeichnet.
Dieser Terminus bezeichnet allerdings nur einen Teil der Bewohner der beiden Häuser, die in der Vorstadt etwas despektierlich, aber dem Zustand entsprechend als "Baracken" bezeichnet werden. Denn einige Bewohner wohnen seit Jahrzehnten dort oder sind sogar nebenan in den "kleineren Baracken" - zwei aneinander liegenden ebenfalls mit Holzschindeln versehenen Wohnhäusern, die abgerissen wurden - aufgewachsen.
In der "großen Baracke", dem heutigen Haus Nummer 198, haben normale Familien gewohnt, wissen ältere Bürger aus Fischweiher und der Hutzelschweiz zu berichten. Wo jetzt das Haus Nummer 200 steht, standen früher drei Eisenbahnwaggons der Länge nach in Richtung Schlossberg, weshalb auch vom "Ostbahnhof" gesprochen wird. Mindestens fünf Bewohner aus drei verschiedenen Familien sind in den "kleinen Baracken" aufgewachsen und wohnen seit mehr als 40 Jahren in dem übrig gebliebenen Holzschindelhaus.
Auch ihre Kinder sind in diesem Haus groß geworden.
Der Versuch, die Zusammensetzung der Bewohner zu erfassen, scheitert alleine schon an den Artikulationsschwierigkeiten einiger Bewohner. Nach ersten scheuen Blicken durch das Fenster oder aus dem Türspalt trauen sich mehrere Bewohner doch vor die Tür und geben Auskunft über die vielen Missstände im Holzschindelhaus: die Zustände der Gemeinschaftstoiletten, der verwahrloste Keller, der Müll in einem verwilderten Bretterverschlag, der mit den vielen Ratten in Zusammenhang gebracht wurde, und der Regen, der durch die Dachgaube dringt, wo vor kurzem einfach das komplette Fenster herausgebrochen war.
Bekannt wie ein bunter Hund
Einer, der nicht vor Medienpräsenz zurückschreckt, ist Helmut Fries. "Warum auch? Ich bin doch sowieso bekannt wie ein bunter Hund", sagt er. Der Heppenheimer krakeelte jahrelang alkoholisiert in der Fußgängerzone herum und pöbelte Passanten an.
Durch die Stadt veranlasst, wurde er im Holzschindelhaus untergebracht, obwohl er dort nicht hin wollte. Doch immer wieder fuhr ihn die Polizei zu seiner neuen Wohnadresse in der Siegfriedstraße Nummer 198.
Das Konzept schien zunächst aufzugehen: Fries gelang der kalte Entzug. Es wurde ruhiger um ihn. In der Fußgängerzone wurde er kaum noch gesehen. Mehr und mehr kümmerte er sich um die Belange seiner Mitbewohner, unternahm für sie Behördengänge, schlichtete Streit und sorgte für ein "angenehmeres Umfeld", indem er etwa seine verschmierte Tür anstrich und die des Nachbarn gleich mit. "Du glaubst gar nicht, was ich um die Ohren habe. Ich komme mir schon vor, wie ein Sozialarbeiter. Ich schaffe das alles nicht mehr."
Fries ist auf Sauberkeit bedacht. Sein zwölf Quadratmeter großes Zimmer ist aufgeräumt. Nur zwei Hosen und ein Hemd liegen über einer Lehne. Auf einer Kochgelegenheit an der Spüle stehen zwei Teller. Sie sind sauber. Die Tür zieren drei Bilder von Hundertwasser, das Fenster wird von einem Tuch mit Löwenmotiv verdeckt. "Siehst Du das alles, was ich hier mache? Nur wenn ich duschen will, dann gehe ich zu Freunden."
Toiletten im Keller
Duschen gibt es in diesem Haus nicht. Wer seine Notdurft verrichten will, muss aus dem Haus und um die Ecke in einen der beiden Keller gehen, wo die Toiletten untergebracht sind. Außerdem stehen dort jeweils zwei Waschmaschinen und hängen zwei Waschbecken. Die meisten haben ein Vorhängeschloss an ihren Toiletten. Fries hat nur einen Zettel an der Tür seiner Toilette kleben. "Klo geputzt. Bitte sauber halten. Helmut", steht darauf.
Relativ ordentlich ist es auch bei den drei Geschwistern, die im Ostbahnhof aufgewachsen sind. Auf dem Tisch stehen Kaffeebecher, eine Kerze brennt. An den Wänden hängen eine Küchenuhr und Familienbilder. Der Küchenherd und der Holzofen sind blitzeblank. Die Couch wird mit einer Spitzendecke verdeckt, auf dem zwei Plüschtiere sitzen; auf dem alten Wohnzimmerschrank steht ein noch älteres Radio. Von der Straßenseite aus zeigt sich das am Hang gelegene Holzschindelhaus von Brennnesseln und Bäumen zugewachsen. Über die rechte und linke Seite des Hauses gelangt man zu den beiden hinteren Eingängen. Der Weg dorthin besteht noch aus Kopfsteinpflaster. Viele Schindeln sind verrottet.
An den Eingängen hängen völlig ungeordnet verschiedene Briefkästen. Sie könnten fast auf den Individualismus in einem Künstlerhaus schließen lassen. Das Treppenhaus lässt erkennen, dass das Haus schon bessere Zeiten gesehen hat: Die Holztreppe und die Dielen wurden schon lange nicht mehr gebohnert. In einem der beiden Hausgänge hängen mehrere Marienbilder. Doch der anheimelnde Eindruck trügt. Die Wände sind verschmiert und heruntergekommen, wenn nicht sogar schon der komplette Putz abgefallen ist.
Für einige Aufregung sorgte ein Schreiben an die Bewohner vom Kreisgesundheitsamt, das seinen Besuch angekündigt hat. Laut Fries reden alle über die Zustände in dem Haus, aber von den Verantwortlichen habe sich noch niemand dort gezeigt. Fries ist das offenbar alles zu viel geworden. Seit geraumer Zeit sitzt er wieder an seinem gewohnten Platz am Eingang der Vereinsbank an der Wilhelmstraße und philosophiert vor sich hin. Nach jahrelanger Trockenheit trinkt er wieder. "Was glaubst Du, was ich alles um die Ohren habe?" dj
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