Einhausen. Als im Jahr 1987 in einem Buch über die Gemeinde Einhausen auf Seite 101 unter der Rubrik „Interessantes – Wissenswertes – Kurioses“ quasi beiläufig erwähnt wird, dass das Haus der jüdischen Familie Lösermann am Tag nach der sogenannten Reichspogromnacht, also am 10. November 1938, geplündert und angezündet wurde, wird das von der Kommunalpolitik als „Skandal“ gewertet. Es ist die Geburtsstunde der Gedenkveranstaltungen zu den Novemberpogromen in Einhausen, die in den ersten Jahren federführend von SPD und Grünen veranstaltet werden.
Heute ist das Gedenken zum 9. und 10. November 1938 eine Veranstaltung der Gemeinde Einhausen. Ausgestaltet wird sie von allen im Gemeindeparlament vertretenen politischen Fraktionen, also CDU, SPD und Grünen, gemeinsam. Liest man den Zeitungsbericht aus dem Jahr 1987, der die Geschehnisse von 1938 gewissenhaft rekonstruiert, ist das schwer zu ertragen: Die Familie Lösermann mit zwei Kindern betrieb ein Lebensmittelgeschäft, durfte aber nur noch heimlich an „Nichtjuden“ verkaufen. Am 10. November versammelten sich 300 Einhäuser vor dem Haus in der Ludwigstraße und schauten mehrere Stunden zu, wie es geplündert und angezündet wurde. Die Feuerwehr spritzte Wasser vor allem auf die umliegenden Häuser, um sie zu schützen. Mehrmals wurden die Schläuche vom Mob durchtrennt. Es gelang der Familie, nach Amerika auszuwandern. Der Sohn klagte in den 1950er-Jahren vor dem Landgericht Darmstadt. Die Möbel seiner Kindheit fanden sich noch in Einhäuser Haushalten.
"Unsanftes" Ende der Veranstaltung könnte für Kontroversen sorgen
Nun hat sich ein fraktionsübergreifendes Team, bestehend aus Steffi Seitz (CDU), Michaela Wiegand (SPD) und Hanna Blumenschein (Grüne) daran gemacht, die jährliche Gedenkveranstaltung zu reformieren. Blumenschein sagt: „Die NSDAP hatte 1930 18 Prozent, ähnliche Zahlen hat heute die AFD. Wir haben heute einen ähnlichen Boden.“ Daher, da sind sich alle drei Frauen einig, solle am 9. November nicht mehr nur der Vergangenheit gedacht, sondern vor einer möglichen ähnlich gefährlichen Zukunft gewarnt werden. Daher läuft die Veranstaltung in diesem Jahr auch unter dem Titel „Einhausen setzt ein Zeichen“. Die Veranstaltung sei mit rund 60 Personen immer recht gut besucht gewesen, nun sollen aber neue hinzukommen: „Wir wollen Menschen in ihrer Haltung stärken.“
Um 18.30 Uhr geht es an der Gedenktafel am Rathaus los. Es wird nur wenige Worte geben, stattdessen werden Bilder aus dem historischen Einhausen gezeigt, die Kurt Müller vom Verein für Heimatgeschichte zur Verfügung gestellt hat. Ein jüdisches Klagelied wird erklingen. Dann gehen die Besucher mit Kerzen in ihren Händen wenige Hundert Meter, kommen ins Gespräch und versammeln sich an der Stelle, wo einst das Haus der Einhäuser Familie Lösermann stand. Auch dort wird es etwas zu sehen und zu hören geben. Zurück am Rathaus werden die Kerzen abgestellt und es wird ein „unsanftes“ Ende geben, wie das Kreativteam verrät. Ein modernes Lied soll die Verbindung von der Vergangenheit in die Gegenwart herstellen. Es könnte für Kontroversen sorgen, meint das Team. Es ist aber dazu gedacht, die Besucher aufzurütteln und zu eigenem Tun anzuregen. Nicht zuletzt wird dann auch der oben erwähnte Zeitungsartikel zum Mitnehmen ausliegen.
Besucherinnen und Besucher sollen die Vergangenheit und ihre Auswirkungen erfühlen
Im Anschluss, um 19.30 Uhr, folgt der ökumenische Gottesdienst in der katholischen Kirche St. Michael. Gedenkfeier und Gottesdienst will das Team als zwei eigenständige Bausteine des Gedenkens verstanden wissen, die beide hintereinander, aber auch jeweils einzeln besucht werden können.
So sollen die Besucher die Vergangenheit und ihre Auswirkungen erfühlen – damit sich die Ereignisse des 9. November 1938 in Deutschland und des 10. November in Einhausen möglichst nie wiederholen.
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