Bensheim. Voll Blut ist die Windschutzscheibe des Autos bespritzt. Am Boden der Fahrerkabine liegt ein einziger Augapfel, darunter noch ein wenig Gewebe. Etwa ein Meter darüber, noch mit dem Körper verbunden, hängt ein Kopf, dessen linke Gehirnhälfte weggeschossen wurde. Es muss ein kaltblütiger Mord gewesen sein, der an diesem sonnigen Morgen das beschauliche Speyer aufweckt. Eigentlich wollten Andre und Irina nur am Rheinufer in der Nähe der Rheinbrücke entlangjoggen, dann sind sie plötzlich Zeugen in einem Mordfall. Oder war es vielleicht gar kein Mord?
Uwe Ittensohn beantwortet diese Frage am Freitagabend noch nicht. Schließlich will der Buchautor in dieser rund zwei Stunden langen Lesung Lust auf mehr machen. In der Buchhandlung Schlapp gibt er eine Kostprobe seines neuen Krimis „Winzerkrieg“ und entführt das Publikum auf eine spannende und zugleich humorvolle Reise durch seine Heimat Pfalz. Es ist bereits Ittensohns siebter Band der Kriminalromanreihe, obwohl er erst seit knapp fünf Jahren vom Schreiben leben kann.
Das ist noch nicht alles an diesem Abend: Denn die Winzerin Karoline Gaul servierte zur Lesung erstklassigen Wein aus der Pfalz, mit dem sich die prickelnden Momente des Buches noch intensiver wahrnehmen lassen – und das alles unter der Überschrift „Wine & Crime“. Bereits zum dritten Mal hat die Buchhandlung Schlapp mit diesem Konzept ein gemütliches Ambiente kreiert, das Kulinarik mit kreativem Schaffen verbindet.
Es ist schon dunkel geworden in der Bensheimer Innenstadt, als Ittensohn aus seinem neusten Werk vorliest. Zunächst beginnt alles ganz harmlos. Die beiden Protagonisten, Hobbyschnüffler Andre Satorius und die russische Studentin Irina, joggen im Morgengrauen am Rheinufer in Speyer entlang. Andre würde am liebsten wieder umdrehen und sich das nächste Mal wieder bequem aufs Fahrrad schwingen, da entdeckt Irina die Blutspritzer auf der Innenseite der Windschutzscheibe eines Autos, dann die Leiche. Die Zeit für die Kriminalkommission ist gekommen.
Ittensohn nutzt die Gelegenheit, um das Prozedere an einer klassischen Tatortfolge am Sonntagabend zu erläutern, um dann zu sagen: „So ist es genau nicht.“ Denn im Fernsehen würden einige Schritte übersprungen, allein bis die Rechtsmedizin aus Mainz am Tatort sei, seien etwa 90 Minuten vergangen. Dass jemand wie Horst Schimanski so lange nicht warten kann und nicht jede Tatortfolge exakt der Realität entspricht, ist selbstredend. Besonders ist trotzdem, mit welcher Detailversessenheit sich Ittensohn in seinem Kriminalroman bemüht, die Abläufe eines Mordfalls und dessen Folgen darzustellen. So erzählt er dem Publikum, dass er sich schon Schießübungen der Polizei angesehen habe, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie sich am besten die Schüsse beschreiben ließen.
Auch von Rechtsmedizinern hat er sich schon die Obduktionsprozesse erläutern lassen. Praktisch ist zudem, dass die Tochter in der Pathologie arbeitet. So lassen sich medizinische Vorgänge präzise erläutern. Was ihn jedoch nicht davon abgehalten hat, einen Mitarbeiter von Karoline Gaul zu fragen, wie er am besten eine Leiche in den Weinbergen verstecken könnte. Der hat dann ziemlich verdutzt geguckt, wie Winzerin Gaul erzählt. Solche Anekdoten kommen beim Publikum gut an. Überhaupt gibt es viel humorvolle Einlagen an diesem Abend. Wenn zum Beispiel Ittensohn im Pfälzer Dialekt spricht, wirkt die Vernehmung im Mordfall gar nicht so bedrohlich. Sofern es sich wirklich um einen Mord handelt. Denn im Laufe ihrer Ermittlungen stößt die Polizei auf einen Abschiedsbrief. Das Publikum wird daher auf verschiedene Bahnen gelenkt – die sogar bis über die Region hinausführen.
Ein Kapitel spielt zu Beginn der Zweitausenderjahre im Baskenland in Spanien, das Ittensohn während einer Weinreise kennengelernt hat. Was das genau mit dem Fall in der Pfalz zu tun hat? Das bleibt zunächst unklar. Doch der Autor verspricht: „Alle Handlungsstränge lösen sich am Ende auf.“ Bisweilen gibt es auch kuriose Details, die auf den zweiten Blick plötzlich ernst wirken. Wenn zum Beispiel ein Kater ins Spiel kommt, der an einem Schwanzbruch laboriert, mag das zunächst lustig klingen. Doch als Ittensohn erläutert, dass dies sogar lebensbedrohlich für die Tiere sein könne, vergeht das Lachen schnell.
Dafür lernen die Zuschauer in diesen Minuten viel. So erfahren sie, dass in Spanien bisweilen Eiweiß dazu verwendet wird, um Tannine und unerwünschte Schwebstoffe vom Rotwein zu trennen. Dazu wird das Eiweiß oben auf den Wein gelegt, woraufhin es langsam zu Boden sinkt und auf diesem Weg die Stoffe an sich bindet. Da sich das Eiweiß dann am Boden absetzt, wird der Wein beim Umfüllen aus den Tanks wieder frei von Eiweiß. So erklärt es der Weinkenner Ittensohn. In Deutschland ist das dem Experten zufolge aber keine Praxis, nur Spanien und die Steiermark in Österreich greifen auf dieses Prozedere zurück. Im Mittelpunkt des Buches steht ohnehin etwas anderes: Es geht um Neid und Hass in der Deidesheimer Winzerszene. Denn wie sich später herausstellt, hatte der Tote mal ein Weingut in Deidesheim. Hat ihn das sein Leben gekostet?
Die Sehnsucht nach gutem Wein vergeht wegen solcher Fragen jedoch nicht. Im Publikum wird genüsslich am Glas genippt, das an diesem Abend mit exzellentem Wein gefüllt wird. Da ist zum Beispiel der Sausenheimer Spätburgunder aus dem Jahr 2022, dessen kraftvolles und zugleich wohl austariertes Beerenaroma am Gaumen geradezu betörend wirkt. Vielleicht wird der rubinrote Rebensaft daher erst am Ende der Lesung ausgeschenkt, um die zweite Leiche besser auf sich wirken zu lassen. Oder ist die Frau, die Hobbydetektiv Andre auf einem Weingut findet, doch noch nicht tot? Fragen über die Verstrickungen in der Pfälzer Winzerszene gibt es zwar zu diesem Zeitpunkt mehr als Antworten. Doch das muss bei einer Krimilesung nicht das Schlechteste sein. Für die Zuschauer war „Wine & Crime“ in der Buchhandlung Schlapp jedenfalls mal wieder: ein Abend bester Unterhaltung.
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