Forum Michaelsgemeinde

Vortrag über Werteethik in der Bensheimer Michaelsgemeinde

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Thomas Tritsch
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Pfarrer Christoph Bergner eröffnete am Dienstag die Veranstaltungsreihe Forum Michaelsgemeinde mit einem Vortrag über Werteethik. © Thomas Neu

Bensheim. Staatlich verordnete Isolation in der Corona-Pandemie und Waffenlieferungen im Ukraine-Krieg, verpflichtende Emissionsbremsen für die Klimarettung und ein verfassungsrechtlich abgesegnetes Recht auf selbstbestimmtes Sterben: Auslöser für breite ethische Diskurse blühen momentan an jeder Ecke.

Doch sie werden kaum geführt, wundert sich der Bensheimer Pfarrer Christoph Bergner. Gleichzeitig erlebt Deutschland seit Jahren eine Renaissance der Werte. Und jeder scheint sich mit ihnen auszukennen.

Im Politsprech wird das Gerede über Werte inflationär verwendet. Über nationale Werte grenzt man sich vom Ausland ab, mit gemeinsamen europäischen Werten zelebriert man internationale Verbundenheit. Man erwartet von Migranten, dass sie „unsere Werte“ anerkennen. Politiker wähnen sich auf einem „festen Wertefundament“.

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Werte sind ideal, um den bürgerlichen Rechts- und Verfassungsstaat mit sittlichen Mächten zu verbinden, ohne sich dabei auf die christlichen Traditionen beziehen zu müssen. Der Staat kann intervenieren im Reich der Sittlichkeit, das ihm eigentlich entzogen ist.

Exklusive Hoheitsrechte

Der Begriff hat Karriere gemacht. Alle berufen sich direkt oder indirekt ständig auf Werte, um politische Meinungen oder Überzeugungen mit moralischer Überlegenheit zu verkleiden und exklusive Hoheitsrechte auszudrücken. Das Gefährliche dabei ist: Wer Werte setzt, der neigt dazu, diesen einen alleinigen Gültigkeitsanspruch zuzuschreiben und sie als Ideologie vor sich her zu tragen – notfalls mit Gewalt.

„Aus einer Werteethik lässt sich moralische Rechthaberei ableiten“, betonte Christoph Bergner am Dienstag in einem Vortrag in der evangelischen Michaelsgemeinde. Er plädiert dafür, sich inmitten dieser „Tyrannei der Werte“ wieder stärker auf das christliche Ethos zu besinnen.

Denn wer Wert sagt, will geltend machen und durchsetzen. Christliche Tugenden hingegen übe man aus, indem man das Gute als Wert an sich versteht. Normen wendet man an, aber Werte werden gesetzt und durchgesetzt. Wer ihre Geltung behauptet, der muss sie auch geltend machen. Und wer sagt, dass sie gelten, ohne dass ein Mensch sie geltend macht, der agiert gleichsam in betrügerischer Absicht.

Ein morastiges Terrain, auf dem Bergner eine kritische Standortbestimmung mit philosophischen Notizen und subjektiven Nuancen gelungen ist. Der Vortrag eröffnete eine kleine Reihe des Forums Michaelsgemeinde im Gemeindehaus an der Darmstädter Straße. An drei Abenden steht jeweils eine große ethische Herausforderung der Gegenwart im Mittelpunkt.

Diesmal ging es um die Werteethik als konkretisierte Form der Ethik, in der Richtlinien und Normen für das sittliche Handeln als hierarchisch gegliederte Werte interpretiert werden. Dies hält der Theologe allein deshalb für gefährlich, weil sie dem Menschen ein Stück Verantwortung für dessen moralisches Handeln abnehmen. Wer sich zu Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Menschenwürde und Rechtsstaatlichkeit bekennt, wie die Europäischen Werte etwa im Vertrag von Lissabon definiert sind, der macht es sich in einem positiv besetzten Wertesystem gemütlich, in dem der Staat als Regulator zuständig ist.

Der Wert beansprucht sozusagen einen eigebauten Gültigkeitsmechanismus, eine letzte Wahrheit. „Etwas mehr Demut täte wohl“, so der Pfarrer: also eine christliche Grundhaltung, die eingesteht, Grenzen zu erkennen und keine Antworten zu haben.

Der Begriff der materiellen Wertethik abseits sittlicher Bezüge bezieht sich auf ethische Theorien, die das Gute als Wert begreifen. Die Prägung des Ausdrucks geht auf den Philosophen Max Scheler zurück. Für ihn waren Werte flexible „Gebilde einer ethisch idealen Sphäre eines Reichs mit eigenen Strukturen, eigenen Gesetzen, eigener Ordnung“. Der Begriff bezeichnet eine philosophische Tradition, die Werte ins Zentrum der Ethik stellt. Scheler bezeichnete es als schöpferische Leistung, Werte als solche zu erfassen und zu manifestieren.

Während man Werte in diesem Verständnis wie ein Baukastensystem willkürlich kombinieren und sich mit ihnen arrangieren kann, so ist eine biblisch-christliche Ethik stets handlungsorientiert im Spannungsfeld zwischen Autonomie und Gottesbezug.

Es geht um eine permanente Reflexion des moralisch Guten und um Handlungsalternativen im Kontext christlicher Theologie. Der Dreiklang aus Glaube, Liebe und Hoffnung sei moralisch gehaltvoller als eine hierarchisch gegliederte Werteliste mit eingebautem Konfliktpotenzial, so Bergner, der im Wertebegriff, wie er heute diskutiert wird, eine Begleiterscheinung der umfassenden Ökonomisierung des Lebens erkennt: „Die Dekonstruktion der Werte entspricht einer Fragmentierung der Gesellschaft.“ Die Wertedebatte übertünche einen Verlust an Normen und den Mangel einer christlichen Wertekultur. Auch Europa benötige laut Bergner vielmehr eine klare Idee statt einer Ansammlung von abstrakten Werten, die weitaus weniger objektiv seien, als sie vorgeben, so der Referent.

Die ätherische Qualität von Werten offenbare sich zudem darin, dass auf sie kaum näher eingegangen wird und dass man sie in einem vagen Plural belässt, weshalb sich niemand ausgeschlossen fühlen muss. Laut Bergner sind sie grundsätzlich von Interessen geleitet. Sie zeigen eine größtmögliche Unverbindlichkeit und Unbestimmtheit und dabei gleichzeitig einen deutlich elitären und ausgrenzenden Charakter.

Pandemie und Sterbehilfe

Die Existenz von Wertkonflikten wird in der konkreten Situation deutlich. Wo zwei gesetzte Werte nicht gleichzeitig berücksichtigt werden können, da kann die Entscheidung nur dem einen folgen, den anderen aber verletzen. Es kommt zu einem Verdrängungseffekt.

Die Pandemie war ein gutes Beispiel für ein solches Gerangel der Werte: Der Staat hat Gesundheit als höchstes Ziel verordnet, später den Datenschutz, während die anderen für Freiheit auf die Straße gingen. Ähnlich schaut es beim Thema Sterbehilfe aus. Das höchste deutsche Gericht hat 2020 ein Recht auf einen assistierten Suizid bestätigt. Die Freiheit, sich das Leben zu nehmen, umfasse auch die Freiheit, auf die freiwillige Hilfe Dritter zurückzugreifen. Doch die Medizin sieht sich dem Leben verpflichtet. Und wer entscheidet darüber, ob der Todeswunsch das Ergebnis reiflicher Überlegung oder eher die Konsequenz einer vorübergehenden Lebenskrise ist?

Wie willkürlich der Handel mit Werten wirklich ist, hat sich bereits kurz nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts gezeigt: Nachdem dem Bürger die Freiheit zur existenziellen Selbstbestimmung juristisch bestätigt wurde, habe man ihm gesagt, er möge aus Gründen der allgemeinen Sicherheit und Gesundheit doch lieber zu Hause bleiben, so Christoph Bergner, der auch auf den Rigorismus der einzelnen Werte verwies.

Jeder einzelne habe, wenn er einmal an Macht gewonnen habe, die Tendenz, sich zum alleinigen Herrscher über die gesamte menschliche Ethik aufzuwerfen. Wertethik und christliches Ethos, so zitierte Bergner die These des evangelischen Theologen Eberhard Jüngel, „sind einander Feind“. Die biblische Botschaft von der Menschenfreundlichkeit Gottes, die in Jesus Christus sichtbar geworden sei, unterbreche die Logik des Wertens und Umwertens auf eine heilsame Weise. „Das könnte auch der aktuellen politischen Diskussion nicht schaden.“

Beim nächsten Termin im Rahmen des Forums geht es um Künstliche Intelligenz.

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