Bensheim. Am 29. und 30. September vor achtzig Jahren erschossen mehrere hundert deutsche Polizisten und SS-Leute in einer Schlucht bei Kiew unter den Augen der Wehrmacht und ukrainischer Hilfskräfte innerhalb von 48 Stunden fast 34 000 jüdische Männer, Frauen und Kinder. Obwohl es für das Geschehen viele Augenzeugen und sogar Fotos gab, wurde das Thema über Jahrzehnte verdrängt und verschwiegen. Bis heute wird über dieses Massaker sowohl in Deutschland als auch bei der Siegermacht Sowjetunion kaum gesprochen.
Warum das so ist, erklärte Manfred Sapper, Chefredakteur der Monatszeitschrift „Osteuropa“ in Berlin und Dozent an der Universität St. Gallen, in einem Vortrag unter dem Titel „Der Holocaust durch Kugeln – Babyn Jar und die blinden Flecken der Erinnerung“. Der Referent ging im Rahmen des AKG-Forums außerdem der Frage nach, welche Bedingungen aus einem Mann einen Verbrecher, aus einem Mädchen eine Aufseherin im Konzentrationslager machen. Und er hatte in der mit Oberstufenschülern, insbesondere der Leistungskurse Politik, gut gefüllten Mensa der Schule eine schlechte Nachricht: Der Zivilisationsbruch der kollektiven Gewaltanwendung sei in uns allen angelegt.
Das Ungeheuerliche wird fühlbar
Die schier unerträgliche Wucht von Dmitri Schostakowitschs Adagio der 13. Sinfonie in b-Moll, einer Vertonung eines Gedichts, das der russische Dichter Jewgeni Jewtuschenko zum 20. Jahrestag des Massakers von Babyn Jar 1961 verfasst hatte, machte zu Beginn des Vortrags das Ungeheuerliche der Ereignisse fühlbar. Zugleich aber lieferte das Hörbeispiel einen Ansatz zum Verständnis der Haltung der Sowjetunion bezüglich der Aufarbeitung des Geschehens.
Mit seinem Gedicht erinnerte Jewtuschenko erstmals in der Sowjetunion an den Massenmord an den Kiewer Juden von 1941. Seine Anklage gegen das von den Deutschen begangene Verbrechen verknüpfte er aber mit dem stalinistischen Antisemitismus, der den Opfern ein Denkmal verweigerte. Nachdem Schostakowitsch sofort bereit gewesen war, den Text zu vertonen, versuchte die Regierung die Aufführung zu verhindern und Jewtuschenko zu zwingen, den Bezug zu den Juden aus dem Text zu nehmen. Neben dem Motiv des Antisemitismus gab es aber noch ein weiteres: Nicht der Opfer sollte in der Sowjetunion gedacht werden, sondern des Heldentums der Sieger.
Für Deutschland wies Manfred Sapper auf die Asymmetrie der Erinnerung hin: Während für die Ermordung der Juden vor allem das Bild der industrialisierten Vernichtung in Auschwitz stehe, blieben die alltäglichen Erschießungen und deren juristische Aufarbeitung weitgehend unbeachtet. So habe es parallel zu den im Licht der Öffentlichkeit stehenden Auschwitz-Prozessen in Frankfurt vor dem Darmstädter Landgericht ein Verfahren zu den Verbrechen der Einsatzgruppen in der besetzten Sowjetunion gegeben. Während die FAZ die Sache unter der Rubrik „Zwischen Taunus und Odenwald“ erwähnt habe, habe allein das Darmstädter Echo ausführlicher darüber berichtet.
Tabus bestünden bis heute über die Einordnung der Ereignisse im Osten, etwa beim Umgang mit den russischen Kriegsgefangenen als auch bei der noch in den 1980er Jahren als normale militärische Operation angesehenen Leningrader Blockade, bei der mehr als eine Million zivile Einwohner systematisch dem Hungertod preisgegeben wurden. Denn der Krieg, den die Nationalsozialisten im Osten führten, unterschied sich im Wesen von dem im Westen. Im Osten tobte der Vernichtungskrieg, es sollten Lebensraum und Ressourcen für das deutsche Volk gewonnen, Slawen und Juden ausgerottet werden.
300 Täternamen bekannt
Auch wenn inzwischen viele Tatsachen bekannt seien, bis hin zu etwa 300 Namen der Täter von Babyn Jar, fehle für viele Zusammenhänge noch immer das historische Bewusstsein. Wer wisse, dass Polen im September 1939 von Deutschland und von Russland im Einverständnis überfallen worden sei, könne die polnische Reaktion auf Nord Stream einordnen. Und in den heutigen autoritären Strukturen unter Putin könne man Fortwirkungen der Erfahrungen des Massakers sehen.
Was aber sind die Bedingungen für solche kollektiven Gewaltausbrüche? Manfred Sapper nannte mehrere Faktoren, die überall auf der Welt funktionierten, darunter die Aufhebung der individuellen Verantwortung und das Schaffen einer administrativen Konkurrenz.
So hätten etwa deutsche Polizeibataillone in Russland und Polen gewütet, um sich in der Zahl ihrer Opfer zu überbieten. Weitere Faktoren: Das Schaffen einer – zum Beispiel männerbündischen – Gemeinschaftsatmosphäre und einer guten Organisation, etwa in Form einer Feldküche am Erschießungsort und der Versorgung der Schützen mit Schnaps. Und, auch dies ein universelles Prinzip: den anderen Menschen das Menschsein absprechen, sie als Ratten oder Schweine, schlicht als unwert zu bezeichnen.
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