Bensheim. Es beginnt als radikales Experiment: Ein Lehrer will seiner Klasse demonstrieren, wie man die Gesellschaft durch autoritäre Strukturen manipulieren kann. Ausgangspunkt ist eine Stunde im Geschichtsunterricht, bei der die Frage laut wird, warum sich so wenige Deutsche im „Dritten Reich“ nicht gegen das Naziregime gewehrt haben. Dies sei heute, und schon gar nicht in den USA, nicht mehr denkbar.
In einem von ihm konzipierten Sozialversuch formiert der Pädagoge daraufhin die von ihm angeführte und stark autoritär geführte Bewegung „The Wave“ („Die Welle“), in der Macht durch Disziplin, Gemeinschaft und Handeln ausgeübt wird.
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Mr. Ross will zeigen, dass Macht und Mitläufertum zeitlose Phänomene sind, die eine demokratische Ordnung immer und überall gefährden können. Die Schüler reagieren begeistert und hoch motiviert. Außenseiter werden zu strammen Kameraden und erlangen plötzlich Verantwortung und Respekt.
Nur die überzeugte und intellektuell reflektierende Individualistin der Klasse begegnet der sich schnell vergrößernden Gruppe skeptisch und ablehnend – und wird von der beliebten Mitschülerin zum systemkritischen Klassen-Feind, für deren Bekämpfung die Organisation nun auch vor Gewalt nicht mehr zurückschreckt.
Über die Verführbarkeit des Menschen
Mit vier Darstellern und wenigen Requisiten inszeniert die American Drama Group Europe ein atmosphärisch dichtes und beklemmendes Kammerspiel über die Verführbarkeit des Menschen durch eine dominante Massenbewegung. Das junge Publikum im ausverkauften Bensheimer Parktheater erlebte eine Theater-Matinée unter der Regie von Paul Stebbings, der zusammen mit Paul Smith das Bühnenstück verfasst hat.
Die literarische Vorlage stammt von Morton Rhue aus dem Jahr 1981 und basiert auf einer wahren Geschichte: 1969 machte ein Geschichtslehrer im kalifornischen Palo Alto ein Experiment, um seine jungen und naiven Schüler über den Aufstieg der Nazi-Partei aufzuklären.
Er macht sich zum Führer und startet eine disziplinierte „Welle“, die sich rasch in der ganzen Schule ausbreitet und in einer Katastrophe endet. Der Roman „The Third Wave“ wurde in Deutschland zu einem Schullektüre-Klassiker und kam 2008 mit Jürgen Vogel als Lehrer in die deutschen Kinos.
Mit der englischsprachigen Inszenierung dieses Stücks zeigt das Ensemble, dass Faschismus kein Phänomen der Vergangenheit ist oder nur in politisch wacklige Staaten um sich greifen kann. Auf der Bühne entwickeln die plastischen Spielszenen eine packende Eigendynamik, die Produktion kommt mit einfachen Bühnenmitteln aus. Lichtregie, Musik und das betont physische Spiel des Ensembles stehen im Vordergrund.
Die drei Schüler-Figuren wirken als soziale Prototypen, deren persönliche Veränderung durch die diktatorischen Strukturen zwar etwas holzschnittartig verläuft, was der Dramatik und Dynamik des Spiels aber sehr zugutekommt. Die Inszenierung demonstriert mit einfachen Mitteln, wie schnell es passieren kann, dass junge Menschen, die Faschismus nicht verstehen können, selbst zu einem Teil der Bewegung werden können.
Der Drill in Disziplin und Gemeinschaftsgeist stößt in der Klasse auf Wohlwollen bis Begeisterung. Das Zackige und Militärische macht Spaß und führt zu besserem Unterricht. Doch der Einsatz für die Gemeinschaft reicht bald bis hin zur Selbstaufgabe, die enge Freundschaft zwischen zwei Schülern steht auf dem Spiel.
Euphorie und Wir-Gefühl
Die „Welle“ überragt alles andere, die persönliche Freiheit wird dem großen Ganzen untergeordnet, von dessen Richtigkeit man überzeugt ist. Die Gruppe kocht vor Euphorie und Wir-Gefühl. Kritiker und Abweichler werden zuerst denunziert und später direkt verfolgt – mit Baseballschläger in der Hand und Hass im Kopf.
Ein jüdischer Mitschüler erlebt das am eigenen Leib. Als der Lehrer das Spiel beendet, ist jedem bewusst, wie einfach man sich hatte hin- und mitreißen lassen. „Wir hätten alle gute Nazis abgegeben“, betont Mr. Ross.
Die Aufführung im Parktheater war eine szenische Lehrstunde in Sachen menschlicher Verführbarkeit und gleichzeitig ein Plädoyer für einen kritischen Geist, der aus Menschenliebe, Toleranz und Freundschaft gespeist ist und sich dem Faschismus – und all seinen üblen Verwandten – unerschrocken entgegenstellt.
Neben der starken Leistung der Theatergruppe sei an dieser Stelle auch die konzentrierte Aufmerksamkeit gewürdigt, mit der die Bensheimer Schüler die Aufführung verfolgt haben.
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