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Monumentale Scherenschnitte zerstören repressive Frauenbilder

Sonja Yakovleva zeigt ihre mit Skalpell und filigraner Technik gearbeiteten Panoramen über Macht, Körperlichkeit und Sexualität. Die Künstlerin zeigt ihre vordergründige sexuelle Freiheit und Selbstbestimmung und übt Kritik.

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Thomas Tritsch
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Sonja Yakovleva vor ihren Werken, die noch bis 10. November im Museum Bensheim zu sehen sind. © Thomas Zelinger

Bensheim. Wenn man an Scherenschnitte denkt, hat man nicht unbedingt die große Kunst im Kopf. Doch die Potsdamer Künstlerin Sonja Yakovleva zeigt, wie mit einem Skalpell und filigraner Technik monumentale Panoramen entstehen, in denen Dominanz, Sexualität und Körperlichkeit eine Bühne finden – zumeist in einem aufgeladenen Widerspruch zu traditionellen Rollen- und Machtbildern einer Gesellschaft, die Yakovleva mit ihrer Kunst revolutionieren möchte.

Mit dem technischen Stilmittel war sie während ihres Studiums an der Hochschule für Gestaltung Offenbach (HfG) in Kontakt gekommen, und sie hatte sich trotz des angestaubten Images gleich verliebt. Ob sie für immer dabei bleibt, weiß die Künstlerin nicht, die in St. Petersburg aufgewachsen und mittlerweile in Frankfurt verortet ist. Bereits im vergangenen Jahr hatte sie das Bensheimer Museum besucht und war auf den Nachlass der Berlinerin Hildegard Arndt-Isernhagen gestoßen, die 1987 in Heppenheim verstorben ist und sich ebenfalls dem Scherenschnitt gewidmet hatte.

Die gläserne Brücke wird zum riesigen Leuchtkasten

Die Auseinandersetzung mit der Künstlerin öffnete biografische Parallelen, die Yakovleva letztlich zu einem Werk inspiriert haben, das auch bei der neuen Ausstellung im Museum zu sehen ist: Die gläserne Brücke zum Ausstellungsraum wird zum überdimensionalen Leuchtkasten und erzählt eine osteuropäische Legende von jungen Mädchen, die nach dem Tod zu Nixen werden und in verwunschenen Seen weiterleben.

Der Besuch diente aber auch dazu, um die Räumlichkeiten einzusehen und im Dialog mit Museumsleiter Jan Christoph Breitwieser ein passend zugeschnittenes Ausstellungskonzept zu erstellen, das sich möglichst ideal in die dreiteilige Sonderausstellungsfläche im Untergeschoss einfügen sollte. Aus diesem ersten Kontakt vor Ort ging auch der Ausstellungstitel „Amazing 11 and other Stories“ hervor, der sich im gleichnamigen Werk (eigens für Bensheim angefertigt) beispielhaft mit intersektionalem Feminismus auseinandersetzt. Sonja Yakovleva hat das Thema visualisiert, inspiriert von ihren Empfindungen als Zuschauerin der Fußball-Weltmeisterschaft 2018 in Russland.

Die heute 35-Jährige hatte sich gefragt, warum der Sport in Geschlechter separiert ist und es keine gemischten Mannschaften gibt – nicht nur mit Männern und Frauen, sondern auch mit Transpersonen und Para-Athleten. Ein buntes Team, in dem es nur darum geht, Tore zu schießen und in dem jeder mit seinen Fähigkeiten und Besonderheiten integriert ist. In dem expressionistisch anmutenden Motiv, überaus plastisch in grün und schwarz inszeniert, vermengen sich unterschiedliche Wesen in einer kafkaesken Utopie, die für die Künstlerin eine wenn auch distanzierte gesellschaftliche Option darstellt.

Sex-positiver Feminismus stellt die Bedürfnisse und Phantasien von Frauen dar

Der großformatige Scherenschnitt „Pornokino“ von 2021 ist eine collagenartige Darstellung visueller Stories von Sexarbeitern, Sexaktivisten und Pornodarstellerinnen, in dem die Konturen von Mensch und Kulisse ebenso miteinander verschmelzen wie die Körper der Figuren, die – wie immer bei Sonja Yakovleva – überaus ästhetisch und lustorientiert wirken. Mit feinen Silhouetten und Farbkontrasten bebildert die Künstlerin aber auch den neoliberalen Körperkult ihrer Zeit.

In den Bildern haben Frauen das Regime übernommen und unterwerfen das patriarchale System. Ohne Scham benutzen sie Männer als Objekte zur Befriedigung ihrer Lust. Doch es geht um mehr als die hedonistische Umkehrung der Verhältnisse. Das Werk ist von sex-positivem Feminismus geprägt. In ihm spiegeln sich Pornografie und Kunstgeschichte ebenso wie volkstümliche Motive, Märchen und Mythen. Sie hatte Lust zu provozieren, wie sie in Bensheim betont. Auch, wenn die Pornografie längst im Mainstream angekommen ist. Zugleich wollte sie eine Art von Schönheit und Verführung erschaffen, die nicht dazu da ist, Männerphantasien zu befriedigen, sondern – im Sinne der frauenfreundlichen Pornobewegung der 70er Jahre in den USA – die Bedürfnisse und Phantasien von Frauen darstellen.

Der sinnliche Spaß am Zerstören repressiver Frauenbilder zeigt die kritische Haltung der Künstlerin, die bei aller vordergründigen sexuellen Freiheit und Selbstbestimmung immer wieder erkennbar ist: In den Motiven ist die körperliche Macht über andere nicht mehr männlich dominiert, sondern von einem soziokulturellen und historischen Kontext geprägt. Sie hinterfragt Gedankenwelten nach ihrem Gehalt, es existiert kein zweifelloses „richtig“ oder „falsch“. Ihre Papierschnitte weisen tief in die deutsche und europäische Vergangenheit zurück, sie offenbaren Einflüsse vom Biedermeier und der Kolonialzeit im 19. Jahrhundert über den Propagandastil des sozialistischen Realismus im 20. Jahrhundert bis ins faschistische Deutschland und zum Stalinismus.

Museum wird ein erfahrbarer Erlebnistraum mit radikalen Themen in monumentalen Darstellungen

Im Papierschnitt „Hinter den Kulissen“ (2022), der auf den ersten Blick wie eine fantastisches Zirkus-Illustration wirkt, bricht nach wenigen Sekunden des Betrachtens eine unheimliche und bedrohliche Komponente durch. Zwischen den Akrobaten, Dressurpferden, Zeltplanen und Seilen erkennt man Soldaten, Braunhemden und Züge mit Menschen auf dem Weg ins Konzentrationslager. Die Arbeit ist inspiriert vom Leben der Zirkusreiterin Irene Storms-Bento, die aus einer berühmten jüdischen Zirkusfamilie stammte, von der fast alle in Auschwitz ermordet wurden. Auf der Suche nach einem Zirkus, in dem sie trotz des Berufsverbotes für Juden arbeiten konnte, verliebte sie sich in einen Clown des Zirkus Althoff und überlebte nur dank des Engagements des Direktors und seines Ensembles, die sie trotz unzähliger Kontrollen tarnten und versteckten. Mit dem Zirkus reiste sie unter Lebensgefahr durch Nazideutschland, trat als „kleine Italienerin“ mit Pferdeakrobatik vor einem Publikum auf – immer in der Gefahr, denunziert und verhaftet zu werden. Im Vordergrund sieht man Bento und ihre Wahlfamilie in Uniformen und Zirkuskostümen. Die orange leuchtenden Hintergrundfarben und die verworrene Plastizität des Werks machen die Stimmung noch dunkler und subtiler. Die Künstlerin lässt auch hier Assoziationen aufeinanderprallen. Der Zirkus ist ein Kosmos der Widersprüche, und somit typisch für die faszinierende, irritierende und inspirierende Kunst der Sonja Yakovleva.

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Das Museum der Stadt Bensheim ist ein sinnlich erfahrbarer Erlebnisraum mit radikalen Themen in monumentalen Darstellungen. Im Gespräch mit der Künstlerin hat Jan Christoph Breitwieser in die Ausstellung eingeführt, die bis zum 10. November zu sehen ist und von Bürgermeisterin Christine Klein eröffnet wurde.

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