Bensheim. Es ist förmlich zu spüren, wie zur Mitte des Konzerts ein Ruck durch die Menge geht. Der hat seinen Grund: Wishbone Ash um das letzte verbliebene Gründungsmitglied Andy Powell startet im Musiktheater Rex mit dem Meilenstein-Album Argus. Das erschien vor 50, eigentlich 51 Jahren. Damit war eine Hommage mehr als an der Zeit. Die gibt’s – und wie.
Dass gut- und handgemachte Rockmusik immer noch ihre Fans – und davon viele – findet, zeigt das proppenvolle Rex. Die eingängigen Klänge der Briten haben auch mehr als fünf Jahrzehnte später noch nichts von ihrer Faszination verloren. Auffällig sind die vielen älteren Besucher, die in Erinnerungen schwelgen. Der eine oder die andere dürfte die Argus-Songs schon damals auf einem Konzert gehört haben.
Bandleader, Gitarrist und Sänger Andy Powell ist das auch aufgefallen. Er kündigt ein Album „from the last century“, vom letzten Jahrhundert, an. „Like you“, wie du, zeigt er lachend ins Publikum auf einen Zeitzeugen – er findet noch einige davon. Der 72-Jährige gerät ins Schwärmen über die gute alte Zeit, wenn er über Jahre ohne Facebook, Instagram und Tiktok spricht, als es die Musik einfach nur live von der Bühne oder auf einer LP gab.
Das dritte Studioalbum der britischen Hard-, Progressive- und Folkrocker ist wegweisend. Es wird als Höhepunkt des Bandschaffens bezeichnet und zeigt das Quartett auf der Höhe seiner musikalischen Kreativität: ein Meilenstein der Rockmusik, wie ihn auch der Radiosender SWR 1 vor kurzem präsentierte. Fans und Kritiker sehen in der Scheibe das beste Album der Gruppe in ihrer 54-jährigen Geschichte.
Das hat mit mehreren Dingen zu tun. Der bekannteste und immer wieder hörbare ist der Einsatz der beiden Leadgitarren. Andy Powell und sein damaliger Kollege Ted Turner perfektionierten diese „Twin Leads“. Sie waren stilprägend. Viele spätere Rockbands adaptierten dieses Spiel, allen voran die Heavy-Metal-Ikonen von Iron Maiden, wie Sänger Bruce Dickinson einmal sagte.
Dazu kommt auf Argus eine ziemlich perfekte Harmonie von bluesig angehauchten Songs, härterem Rock, progressivem Touch, aber auch leichten Folkelementen. Das Ganze so eingängig, dass es einfach ein Erfolg werden musste. Bassist Martin Turner, der auch damals für den Leadgesang zuständig war, und Schlagzeuger Steve Upton bildeten mit den beiden anderen das klassische Line-up.
Doch die Geschichte von Wishbone Ash ist wie die anderer Rockgruppen der 70er-Jahre von vielen Besetzungswechseln geprägt. Schon 1974 gab’s den ersten. Die Reunion von 1987 sollte nicht lange halten. Andy Powell erstritt sich 2013 von Martin Turner das Recht, allein unter dem alten Bandnamen auftreten zu können. Und lässt so die Zuschauer selig in Erinnerungen schwelgen.
Die Lieder des 2020er-Albums „Coat of Arms“ zu Beginn werden gern angenommen, aber sie reichen nicht an die alten Kracher ran, weswegen die meisten gekommen sind. Da ist es eher „Rock’n’Roll Widow“ von der 1973er-Scheibe Wishbone Four oder die gefällige „Ballad of the Beacon“ von derselben Veröffentlichung, die als Anheizer für die folgende Reminiszenz an vergangene Glanzzeiten dienen.
Powell hat es auf den sechs Saiten immer noch voll drauf. Natürlich ist er am Mikro kein Martin Turner, der die Truppe gesanglich mehr prägte. Aber darüber lässt sich hinwegsehen. Der zweite Gitarrist Mark Abrahams, erst seit fünf Jahren dabei, macht ein ums andere Mal auf sich aufmerksam, wenn er gefühlvolle Soli raushaut oder der Slide-Gitarre schwebende, sphärische Töne entlockt.
Bassist Bob Skeat, mit seinen 25 Bandjahren das Mitglied mit der zweitmeisten Erfahrung, hat sich genau angeschaut, wie sein Vorgänger zu Werke ging. Sein Bass klingt oft wie eine dritte Gitarre – ganz nach dem Vorbild Martin Turners. Schon der Opener „Time Was“ zeigt, warum Argus unvergessen ist. In dem Stück ist alles drin, was ein guter Rocksong braucht: harte Riffs, schnelle Breaks, aber auch melodiöse Gitarren.
„Sometime World“ und „Blowin’ free“ werden ebenfalls schon nach den ersten Tönen mit viel Vorschussapplaus bedacht. Viele Ältere bekommen ein seliges Lächeln ins Gesicht, als sie an ihre Jugend zurückdenken. „The King will come“ besticht mit dem bekannten Riff, das jeder schon einmal gehört hat. Während „Leaf and Stream“ eher etwas vor sich hinplätschert, legt „Warrior“ noch einmal kräftig zu und bildet eine hervorragende Basis für lautstarke geforderte Zugaben. Eine Sternstunde des Rocks.
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