Bensheim. Jetzt ist es raus: Ein Penis ist schuld am Zweiten Weltkrieg. Beziehungsweise dessen Beschädigung. In Rosa von Praunheims Theaterstück „Hitlers Ziege und die Hämorrhoiden des Königs“ wird das Gemächt des noch kleinen Führers von einem anderen Hornträger angebissen. Die Verstümmelung seiner körperlichen Männlichkeit reiht sich ein in Spekulationen über die Anzahl seiner Hoden, seiner sexuellen Vorlieben und eine pathologische Frauenverachtung. Der Stoff für eine Farce, in der die psychologischen und weltgeschichtlichen Auswirkungen sexueller Vorlieben in ein fiktives historisches Gefummel zwischen Hitler und Friedrich den Großen eingebaut sind. Ein trashiges Rodeo aus bizarren Szenen mit queren Typen und einer todernsten Botschaft: Wer nicht vorbehaltslos lieben kann, der ist zu allem fähig.
Das Eröffnungsstück der 29. Woche junger Schauspielerinnen und Schauspieler wurde im Parktheater regelrecht abgefeiert. Nach 90 Minuten brach stürmischer Beifall herein über Michaela Dazian, deren Hitler in quietschrosa Uniform über die Bühne tanzt und dem schwulen Fritz (Antonia Maria Waßmund) an den Monarchenständer geht. Eine Frontaloffensive an preußischen Männlichkeitswahn und verklemmte Homosexualität in einer braunen Soße, in der bunte Regenbogen wenig Platz zum Leuchten haben. Ein homoerotischer Stellungskrieg über zwei deutsche Epochen hinweg. Heute weiß man, dass Hitler als einzigen Schmuck für den Führerbunker ein Porträt Friedrichs des Großen mitgenommen hatte. Ein Arztbericht von 1923 soll zudem bestätigen, dass er offenbar nur einen Hoden hatte.
Regisseur Damian Popp setzt die Vorlage vom ehemaligen deutschen Homo-Schocker konsequent um. Längst gilt der Film- und Theaterregisseur, Produzent, Autor und Regieprofessor Rosa von Praunheim als öffentlicher Wegbereiter und Mitbegründer der LGBTQ-Bewegung in Deutschland. Er gilt als wichtiger Vertreter des Neuen Deutschen Autorenfilms. „Hitlers Ziege“ wurde 2020 am Deutschen Theater in Berlin uraufgeführt. Es geht um männliche Eitelkeiten und sexuelle Neigungen im Kontext von Sehnsucht, unterdrückter Sexualität und Massenmordfantasien.
Harter Tobak, der sich auf der Bühne lustvoll und beschwingt in einem reichen Kosmos an skurrilen Situationen und warmen Ideen entfalten kann. Die beiden grandiosen Schauspielerinnen prägen das Stück und schaffen die nötige Distanz zu den Männern, die mit ihren individuellen physischen Spezialitäten ihre Not haben: Den Alten Fritz schmerzt es am Gesäß, und Hitlers bester Kamerad zeigt wenig Haltung gegenüber den Gelüsten seines Diktators.
Im Himmel trifft man sich und kommt sich näher. In jeder Hinsicht und aus jeder Perspektive. Gummidildos, wippende Ziegen und umgeschnallte Pipi-Röhrchen für ungelenke Wasserspielchen sorgen im Parktheater für Lacher in dieser szenischen Nummernrevue, in der zwei ständig kopulierende Machtmänner ihr Schwulsein als wahres Kameradentum abfeiern und gleichermaßen unter diesen vermeintlich undeutschen Umtrieben leiden und sich auf Teufel komm raus nicht emanzipieren können. Das Patriarchat mäandert zwischen Impotenz und Größenwahn. Für Damian Popp (Jahrgang 1988) ist es nach „Zwei Fleischfachverkäuferinnen“ der nächste Praunheim.
Antonia Marie Waßmund ist als junger Hitler in Seppelhose ein streng gescheiteltes, aufgeregtes Kind mit psychischen Defiziten und sexuellen Orientierungsproblemen, und auch Michaela Dazian vereint unbändige Spiellust mit feinen Parodien und wuchtiger Bühnenpräsenz. Die Inszenierung lebt vom starken Timing der Protagonistinnen und ihrer physischen Energie, bei der die kleinen, feinen Nuancen nicht verloren gehen. Durch eine konstante Souveränität des Spiels gehen sie in dieser bisweilen wirren und wackligen Dramaturgie nicht verloren.
Weil es Rosa von Praunheim in seinem Stück vor allem um den neuen nationalistischen Spuk geht, wird auch diese Komponente auf der Geraer Bühne nicht vergessen: „AfD, AfD, Arschlöcher für Deutschland“ skandieren die Figuren und drehen den Spieß einfach mal um. Während die „Alternative“ gerne gegen „staatlich subventioniertes Gesinnungstheater“ hetzt, pinkelt hier ein theatralisch verzerrter Ober-Nazi seiner Nachhut – nein, diesmal nicht in den Mund –, sondern sprichwörtlich ans Bein. Unterm Strich serviert Popp saftig pralles und junges Theater mit Mut für neue Ausdrucksformen und einer Bühnenshow, die vielleicht nicht jedem gefallen wird, die aber genau das beweist, was Hitler anatomisch wohl gefehlt hat.
URL dieses Artikels:
https://www.bergstraesser-anzeiger.de/orte/bensheim_artikel,-bensheim-inszenierter-stellungskrieg-an-allen-fronten-_arid,2183336.html