Bensheim. Es geschah im Sommer vor fast fünf Jahren. Das Haus am Markt verwandelte sich (nicht ganz freiwillig) in einen Haufen Bauschutt. Ein Teil des Trümmerhaufens blieb, das nur nebenbei bemerkt, noch ein ganzes Jahr liegen, bevor er abtransportiert wurde. Weil man im Rathaus mit Blick auf die Entsorgungskosten abwarten wollte, wie sich der Marktplatz der Zukunft denn so entwickelt. Heute weiß man: Über die Reste des 70er-Jahre-Baus wäre nicht nur sinnbildlich Gras gewachsen.
Die Liaison der städtischen Immobilie mit dem Abrissbagger wirbelt allerdings auch heute noch jede Menge Staub auf. Schließlich weiß immer noch keiner, wie die Lücke vor dem Gotteshaus Sankt Georg gefüllt werden soll. Oder ob überhaupt Stein um Stein was Handfestes in die Höhe wächst, Stichwort Schorschblick.
Lokales Heiligtum
Der hat sich in manchen Kreisen die Anerkennung als lokales Heiligtum verdient. Zwar war die Kirche auch vorher schon nicht unauffällig in der Innenstadt platziert. Jetzt aber kann man sie in ihrer ganzen Pracht von der Fußgängerzone aus bewundern. Ein Neubau davor? Um Gottes Willen! Das käme für die Fangemeinde einem mittelschweren städtebaulichen Sündenfall gleich.
Aber zwischen Hochhaus und luftiger Freiflächengestaltung (die es selbstredend auch nicht zum Nulltarif gibt) dürften Experten schon noch die eine oder andere Option sehen. Womit wir beim Ideenwettbewerb wären. Bis zum 26. Januar können Büros, die Interesse an einer Teilnahme bekundet haben, ihre Entwürfe einreichen. Wie viele Planer sich schlussendlich Gedanken machen werden, weiß man nicht. 32 hatten zum Stichtag Ende Oktober mal den Finger gereckt, Ende Januar weiß man mehr.
Damals geschätzte Baukosten: 8,4 Millionen Euro
Deutlich mehr Erkenntnisgewinn erhoffen sich alle, die sich noch irgendwie für die Dauerbaustelle mit ihren immergleichen Debatten interessieren, von der Entscheidung des Preisgerichts. Das tagt am 23. Februar und kürt die Sieger für deren Planungen. Klingt spannend, die jüngere Bensheimer Geschichte hat aber gelehrt, dass ein Fünkchen Hoffnung, eine Prise Vorfreude oder gar leichte Euphorie Gefühlszustände sind, die man sich für passendere Anlässe als die Stadtentwicklung aufsparen sollte.
Kurz die jüngere Vergangenheit ins Gedächtnis rufen: Am oberen Marktplatz hätte in einen Neubau mal tatsächlich der schwedische Modekonzern H&M mit einer Filiale einziehen sollen, flankiert von einem gastronomischen Angebot. 2015 gab es dafür mal einen Grundsatzbeschluss der Stadtverordnetenversammlung.
Die Baukosten schätzte man damals auf 8,4 Millionen Euro, die MEGB hätte (wie im weiteren Verlauf auch) als Bauherr auftreten sollen. Trotz monatelanger Verhandlungen, begleitet von kritischen Tönen aus der Stadtgesellschaft, kam kein Vertrag zustande. Laufzeit und Mietpreis sprachen wohl dagegen. Oder in der Firmenzentrale wusste man nach einem Blick in die Glaskugel, dass man von Bensheim besser Abstand nimmt.
Schwerpunktverlagerung von Klamotten zu Gastronomie
Wie dem auch sei: In der Folgezeit verlagerte sich der Schwerpunkt weg von Klamotten hin zur Gastronomie, mit Platz für Familienzentrum und Hospiz-Verein. Nachdem ein potenzieller Betreiber nicht mehr wollte, galt das Lorscher Back- und Brauhaus Drayß als potenzieller Neuzugang. Doch auch hier gab es einen Rückzug, weshalb schlussendlich das Café Extrablatt am Marktplatz eine Ansiedlung nicht nur in Erwägung zog, sondern auch schriftlich mit den Verantwortlichen fixierte. Auf 6,8 Millionen Euro (inklusive Abriss) taxierte man 2019 die Kosten. Die Gastro-Kette selbst wollte in den Innenausbau 1,2 Millionen Euro stecken.
Mittlerweile sind Zahlen, Daten und Fakten aus jener Zeit aber nur noch für Chronisten von Wert. Oder Kommunalpolitiker, die auf ein gut sortiertes Archiv Wert legen. Bekanntlich zog der damalige Bürgermeister Rolf Richter im August 2019 die berühmte Reißleine und legte das Neubauprojekt wegen der Gefühls- und Stimmungslage in der Stadt auf Eis.
Vielleicht ein Frühlingserwachen nach Ideenwettbewerb
Dort liegt es heute noch, allerdings nicht taufrisch, sondern gut abgehangen. Ein Bürgerdialog, ein Bürgerbegehren, diverse Beschlüsse der Stadtverordnetenversammlung, Entscheidungen des Verwaltungsgerichts, ein gestoppter und ein neugestarteter Ideenwettbewerb, mittlerweile zwei Bürgerinitiativen, die beide einem Neubau wenig Sympathie entgegenbringen: Die Liste der Kapitel rund um den oberen Marktplatz und das Haus am Markt ist lang. Ein Bestseller ist das Buch deshalb nicht. Vielmehr ein zäher Schinken ohne Spannungsbogen, dem ein paar neue Autoren nicht schaden würden. Vielleicht gibt es nach dem Ideenwettbewerb ein kleines Frühlingserwachen, vielleicht nur die weitere Folge einer Serie, die sich zwischen Drama, Tragikomödie und Possenspiel bewegt.
Um im Streaming-Jargon zu bleiben: Wer bisher den Marktplatz verfolgte, hat zuvor womöglich auch folgende lokale Produktionen geschaut: „Game of Bürgerhaus – das Lied von Sanierung, Neubau und irgendwas Teurem dazwischen“, „Zombieland – ein Tag im Neumarkt-Center“, „Stadtbibliothek – The Way of Water und Brandschutz“, „Bensheimer Mietpreise – No Country for poor Men“ (keine Fiktion, sondern leider eine Doku) oder „Hoffart-Gelände – How I met your Investor irgendwann einmal“.
Sicher ist nur: Für die Bensheimer Innenstadt wäre es nicht von Nachteil, wenn es knapp fünf Jahren nach dem Ableben des Hauses am Markt eine Idee gäbe, die umsetzbar ist, nicht sofort zerredet wird und tatsächlich einen Mehrwert bringt – ob nun mit oder ohne Gebäude.
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