Kultur

Eine Eysoldt-Premiere im Bensheimer Parktheater

De Eysoldtpreisträgerinnen Alicia Aumüller und Patrycia Ziólkowska sorgten mit „Ödipus Tyrann" in der Regie von Nicolas Stemann am Mittwochabend für eine Sternstunde im Parktheater.

Von 
Thomas Tritsch
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De Eysoldtpreisträgerinnen Alicia Aumüller (rechts) und Patrycia Ziólkowska sorgten mit „Ödipus Tyrann“ in der Regie von Nicolas Stemann (Mitte) am Mittwochabend für eine Sternstunde im Parktheater. © Thomas Zelinger

Bensheim. Für ihre schauspielerischen Leistungen in „Ödipus Tyrann“ am Schauspielhaus Zürich wurden Alicia Aumüller und Patrycia Ziólkowska am 18. März mit dem Gertrud-Eysoldt-Ring ausgezeichnet. Am Mittwoch wurde die antike Tragödie in der Regie von Nicolas Stemann im Parktheater aufgeführt. Ein ganz besonderes Gastspiel: Niemals zuvor hat Bensheim einen oder mehrere Eysoldt-Preisträger in der jeweiligen Inszenierung erlebt.

Im September 2022 wurde die Bearbeitung des antiken Klassikers im Schauspielhaus Zürich mit stehenden Ovationen gefeiert. In Bensheim zeigte sich nach einhundert intensiven Minuten ein ähnliches Bild, wenngleich im Theater, vor allem auf Balkon und Empore, zahlreiche Plätze freigeblieben waren.

Das Kulturereignis hätte ein größeres Publikum verdient gehabt, zumal man eine solche Kombination von künstlerischer Qualität und außergewöhnlicher Regie (in Bensheim ohnehin) selten zu sehen bekommt. Aumüller und Ziólkowska übernehmen sämtliche Rollen des Sophokles-Stoffs – die ganze griechische Tragödie als leuchtendes Duett mit einer Energie und Dichte, die bis zur letzten Sekunde beeindruckt.

Blind für die tragische Wahrheit

Alles ist Wort: Vom Chor über die Schwestern Ismene und Antigone (Töchter des Ödipus) als Zeugen des Handlungsverlaufs bis zu Iokaste, Kreon und dem blinden Seher Tiresias und schließlich zu Ödipus selbst, der sich im Moment seiner Klarheit selbst blendet: Sehend war er blind für die tragische Wahrheit, und als er sie sieht, nimmt er sich das Augenlicht.

Ödipus übersieht den blinden Fleck, sich selbst. Er möchte Theben vor der Krise retten und bringt stattdessen Unglück, Pest und Zerstörung. Den Schauspielerinnen gelingt es famos, jede einzelne Figur auf die stufenartige Vorbühne zu bringen, hinter der ein eiserner Vorhang zu Theben den Blick in die Tiefe versperrt.

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Das Bühnenbild wurde für das Parktheater angepasst, gleichsam maßgeschneidert. Statt einer grau gerippten blechernen Wand wie in der Zürcher Urversion nur Stoff und Licht. Auf Kulissen und Requisiten wird verzichtet. Kein Bühnengerümpel und sonstiger Firlefanz. Der Effekt sind die Frauen, die schwarze Kleider und weiße Sneakers tragen. Gut Gerüstet für einen Bühnenmarathon dieser Qualität.

Die maximale „Verkleidung“ ist ein wenig Tüll für Iokaste. Alles andere ist Schatten und Nebel, atmosphärisches Rauschen und gleißendes Licht im Augenblick der bösen Erkenntnis. Das Ende ist ein dramaturgischer Knall: als Ödipus seine Schuld erkennt, erhängt sich Iokaste.

Zwei Szenen, die im Kampf um die Wahrheit ineinanderfließen und der Inszenierung ein hoch dramatisches – und kathartisches – Finale schenken. Die Botschaft: jeder hat Schuld auf sich geladen, zu jeder Zeit. Die Spots blenden das Publikum und schmerzen in den Augen.

Monumentaler Minimalismus

In dieser schlanken Performance zeigt sich die Macht von Körper und Stimme, die physische Präsenz der Akteure ist beeindruckend und anstrengend. Monumentaler Minimalismus in Reinform. In der ersten Reihe sind die wenigen Accessoires geparkt, ein paar Flaschen Wasser zur Erfrischung.

Viele Szenen spielen sich im hellen Theaterraum inmitten des Publikums ab. Aumüller und Ziólkowska sprechen im Chor, vertiefen sich in einen Rhythmus aus Deklamation, Dialoge und Monolog.

Die Identitäswechsel gelingen brillant. Teilweise wird ein und der gleiche Text als rhetorisches Doppel durchgekaut. Kurz vor Ende dieses antiken Thrillers und Erleuchtungskrimis geht Aumüller durch eine Zuschauerreihe und knüpft ihren Tüllrock an einen Kronleuchter aus Neonröhren, der langsam in die Höhe fährt. Die pointierte technische Ästhetik und elegante Schlankheit harmoniert mit der fokussierten Art der Bühnendarstellung. Allein die Kunst der beiden Eysoldt-Preisträgerinnen ist von üppiger Fülle und überbordender Pracht gekennzeichnet.

Ziólkowska und Aumüller verhandeln existenzielle Fragen von Schuld und Verantwortung mit einer grandiosen Körperlichkeit und stimmlicher Perfektion. Die Dynamik des Rollenspiels ist fesselnd. Der stringente Plot und die Verdichtung des Textes lassen den altbekannten Stoff in einem neuen Glanz erscheinen. Dabei verzichtet Nicolas Stemann auf jeden holprigen Gegenwartsbezug – die zeitlose Aktualität der Schuldfrage ist ohnehin jedem bewusst.

Die Zuschauer begleiten das Schicksal jenes Ödipus, der unwissend seinen Vater erschlug und seine Mutter heiratete. Als König von Theben hatte er einst das Rätsel der mörderischen Sphinx gelöst: Wer geht am Morgen auf vier, am Mittag auf zwei und am Abend auf drei Beinen? Die Antwort war „der Mensch!“. Das Mysterium seiner eigenen Existenz kann er indes nicht durchschauen. Irrlichternd mäandert er durch eine Biografie, die später als psychoanalytisches Erklärungsmodell für die gesamte Menschheit herhalten muss, seit Freud seiner Gattung den berühmten Komplex in die Genetik gepflanzt hat. Der Herrscher bleibt ratlos, also muss das Orakel von Delphi her. Der Auftrag ist klar: Solange der Mord an Laios, Thebens ehemaligem König, nicht gesühnt ist, bleibt der schwarze Vorhang im Parktheater geschlossen.

Die Schuld des Einzelnen wird zum kollektiven Leid. Der König will nichts von Verantwortung wissen und weist die vermeintlich absurden Vorwürfe von sich. Er vermutet eine Intrige seines Schwagers Kreon, der es auf seine Königsmacht abgesehen zu haben scheint.

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Als ihn seine Gattin und Mutter trösten will, trifft ihn die Wahrheit wie ein Blitz. In seiner Verzweiflung wendet sich Ödipus in dieser Inszenierung auch ans Publikum und wirft diesem denkfaules Mitläufertum vor: Die Zuschauer übernähmen kritiklos die homerischen Schuldzuweisungen – dabei sei der Dichter doch nur ein ganz gewöhnlicher Sänger und damit kaum bedeutsamer als irgendein Eurovision-Song-Contest-Kandidat. Auch das gleichgültige „Schönen Tag noch“, mit dem Teiresias den am Boden zerstörten Ödipus verlässt, löst eine der wenigen Lacher im Parktheater aus.

Kleine Gags wie diese können die todernste Spannung des Stücks zum Glück nicht wirklich durchbrechen, das aufgrund seiner Popularität dazu verdammt ist, dem Zuschauer keine finale Auflösungsüberraschung bieten zu können. Umso mehr muss die Regie die Wucht des Textes betonen, den Stemann neu übersetzt hat. Er stürzt sich weniger auf die Psychologie des Stoffs, ihm geht es um die Frage nach der Schuld und den Umgang mit Kritik und Wahrheit, der immer schon von Populismus und Verdrängung geleitet wird. Die bequeme Selbsttäuschung lautet: Wer die Macht hat, hat auch Recht.

Virtuos wechselt das Duo zwischen der strengen Tragödie und kleinen kabarettistischen Auflockerungen. Unterwegs ins Licht warten kleine Soli und packende sprachliche Duelle. Große Theatralik und intensives Kammerspiel wechseln sich ab, das komplette Stück ist auf die beiden Schauspielerinnen ausgerichtet, die in Bensheim eine fantastische Leistung zeigen und sämtlichen Figuren eine bemerkenswerte Plastizität und Dichte schenken. Die Hauptrolle ist der Text, der von Alicia Aumüller und Patrycia Ziólkowska – trotz Ausdünnung mancher Feinheiten – auf eine neue, aufregende Ebene gehoben wird.

Am Ende, wenn das zart-traurige Folk-Lied „What He Wrote“ von Laura Marling (was für ein Bruch im Ton!) über eine verstummte Liebe verklungen ist, springen die Zuschauer im Parktheater sofort auf und beklatschen frenetisch eine besondere „Rückkehr“ des Eysoldt-Rings.

Am Ende umarmen sich die Preisträgerinnen und ihr Regisseur. Ein Theaterabend, der bleiben wird.

Freier Autor

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