Online-Vortrag - Stadtforscherin Marie Neumüllers sprach auf Einladung von Soroptimist International über „Innenstädte unter Druck“

Die Bensheimer DNA herausarbeiten

Von 
Jeanette Spielmann
Lesedauer: 

Bensheim. Soroptimist International (SI) gilt als weltweit größte Service-Organisation berufstätiger Frauen, die mit ihren Aktivitäten und Aktionen Fragen der Zeit aufgreift und sich für Menschenrechte, internationale Verständigung und verantwortliches Handeln auf allen Ebenen der Gesellschaft engagiert.

Das tut auch der SI-Club Bensheim/Heppenheim mit Präsidentin Irene Schmidt, wenngleich die Möglichkeiten aktuell auf Online-Veranstaltungen begrenzt sind. Der aktuelle Clubabend stellte die aktuelle Situation in den Innenstädten in den Mittelpunkt. Ein Thema, das schon seit Jahren virulent ist, aber durch die Pandemie nochmals verstärkt in den Blickpunkt geraten ist.

Mit Marie Neumüllers konnte Clubpräsidentin Schmidt einmal mehr auf das im Clubnetzwerk vorhandene bereit gefächerte Fachwissen zurückgreifen. Die in Berlin ansässige Stadtforscherin führt mit ihrem Büro Urbanizers unter anderem Forschungsprojekte für das Bundesbauministerium durch, berät aber auch Kommunen und organisiert Wettbewerbsverfahren und Bürgerbeteiligungsprojekte.

Mehr zum Thema

Auszeichnung

Bensheim bleibt Fairtrade-Stadt

Veröffentlicht
Von
ps
Mehr erfahren
Landtagswahl

Bundesministerin beim SPD-Infostand in Bensheim

Veröffentlicht
Von
Jeanette Spielmann
Mehr erfahren
Landtagswahl

CDU legt in Bensheim deutlich zu, Desaster für die SPD

Veröffentlicht
Von
Dirk Rosenberger
Mehr erfahren

Diese Expertise, aber auch das Vortragsthema „Innenstädte unter Druck“ interessierte natürlich auch die Akteure, denen von Berufs wegen Innenstädte im Allgemeinen und die Bensheimer City im Besonderen am Herzen liegen. Dazu gehörten Tatjana Steinbrenner, Geschäftsführerin des Kaufhauses Ganz und IHK-Vizepräsidentin, Erika Arnold vom Bensheimer Stadtmarketing, Sophia Hübner von der Wirtschaftsförderung des Kreises Bergstraße und die Landtagsabgeordnete Birgit Heitland, um nur einige der interessierten Teilnehmerinnen zu nennen.

Die in Heidelberg aufgewachsene Referentin hat über eine Tante zwar Beziehungen zu Bensheim, war aber schon seit 15 Jahren nicht mehr vor Ort. Aber sie weiß aus ihrer Erfahrung, dass der Strukturwandel in den Innenstädten ein generelles Problem ist und die Anzeichen dafür auch schon lange vor der Pandemie sichtbar wurden.

Anfänge in vorchristlicher Zeit

Interessant war der von ihr ausgeführte historische Kontext. Die ersten Städte entstanden etwa 10 000 vor Christus als Siedlungen einzelner nomadischer Familienverbände. Daraus entwickelten sich dann nach und nach die verschiedenen Funktionen der Politik, Wirtschaft, Religion und Gesellschaft. Dazu kamen dann die entsprechenden Anlagen und der Ausbau mit einem inneren und äußeren Stadtring.

Ausgehend von dem Leitbild einer funktionalen, aufgelockerten Stadt ging es dann in der Moderne um die Funktionstrennung und die Entlastung der Innenstädte von lauten und gesundheitsschädlichen Produktionsstätten.

Die Folge waren zunehmender Verkehr zwischen den Funktionsbereichen und die Verödung der Innenstädte. Während die Bedeutungslosigkeit der Innenstädte durch das deutsche Wirtschaftswunder nach dem Zweiten Weltkrieg abgemildert worden sei, habe sich beispielsweise Dessau bis heute nicht von dieser Entwicklung erholt.

Auch der Einzelhandel habe sich hin zu immer größeren Flächen und Fachmarktzentren am Stadtrand verändert und zur Teilung zwischen Innenstadt, Stadtrand und Wohnvorort geführt. In den Innenstädten sei es zur Konzentration auf Textilisierung und Filialisierung gekommen und der Online-Handel habe sich ebenfalls ausgewirkt, was nach über einem Jahr Pandemie die Situation vor Ort noch verstärkt habe. Die Auswirkungen werden sich nach Auffassung von Neumüllers erst in drei bis fünf Jahren nach der Pandemie aufzeigen.

Ob eine Innenstadt in der Bedeutungslosigkeit versinkt, hänge mit ihrer DNA und was daraus gemacht wird zusammen, sprach sie von der Eigenlogik oder dem Alleinstellungsmerkmal einer Stadt. Hier hat Bensheim durchaus einiges zu bieten, wie die Diskussionsbeiträge ergaben.

Genannt wurde das Prädikat Schulstadt, das für die Auswahl Bensheims als neuen Wohnort ausschlaggebend war. Ein weiterer Punkt war die historische Altstadt in Kombination mit dem Neuen, aber auch die Spielplätze und Orte für mögliche Pausen beim Einkaufen. Zum Wohlfühlen in Bensheim gehörten aber zudem die vielen persönlichen Kontakte in den Geschäften oder auf dem Markt.

Ungenutzte Potenziale wurden angesprochen, wie beispielsweise die Lauter. Tatjana Steinbrenner sprach von einem Kleinod und einer wichtigen Achse in der Stadt. Sie zugänglich zu machen und wiederzubeleben, würde einen Mehrwert bieten.

„Wer sorgt für die Vielfalt?“

„Bensheim ist liebenswert, es passiert viel und es gibt neue Ideen“, sprach Ingeborg Deichmann ein ganz anderes, aber grundlegendes Problem an, das sich insbesondere in der Fülle der Brillengeschäfte und Handyläden zeige. „Wer sorgt für die Vielfalt in der Innenstadt?“, sprach die Buchhändlerin das schwierige Thema Mieten und Vermieter an.

Für das Wohl und Wehe einer Innenstadt könne jeder etwas tun. Der einzelne Bürger, der in den Geschäften einkauft und nicht im Online-Handel, die Geschäfte, die neben Produkten vor allem Service bieten, die Kommunen, die für unterstützende Rahmenbedingungen und eine hohe Aufenthaltsqualität in den Innenstädten sorgen sowie Bund und Länder, die das Handeln vor Ort durch gesetzliche Regelungen und Förderprogramme unterstützen.

Nachholbedarf bei der Politik – etwa bei der Besteuerung – wurde hier beim Online-Handel gesehen, der die Geschäfte kaputtmache. Andererseits investiert die Politik in die Belebung der Innenstädte durch entsprechende Förderprogramme. Hier wies die Landtagsabgeordnete Birgit Heitland auf das im vergangenen Dezember gegründete Bündnis für die Innenstadt hin, das viele Akteure an einen Tisch bringe, um aus der gebündelten Erfahrung aller Beteiligten einen Zukunftsplan zu entwickeln.

Auch das Programm „Ab in die Mitte“ werde fortgesetzt. Hier hat das Bensheimer Bürgernetzwerk bereits zum zweiten Mal erfolgreich teilgenommen und erneut 17 000 Euro erhalten, um Projekt und Aktionen zum Thema Regionalität voranzubringen.

Ob und wie erfolgreich die verschiedenen Aktivitäten in einer Stadt sind, hängt auch davon ab, wie gut die öffentlichen und privaten Akteure und Aktionen miteinander vernetzt sind. Keine einfach zu lösende Aufgabe, wie ein Diskussionsbeitrag zeigte. So verwies Tatjana Steinbrenner auf die von Bürgermeisterin Christine Klein und Erster Stadträtin Nicole Rauber-Jung initiierte neue Kampagne „Gemeinsam für Bensheim – 365 Tage für die Zukunft unserer Innenstadt“.

Freie Autorin

Copyright © 2025 Bergsträßer Anzeiger