Bensheim. „Sicher fragen sich viele von Ihnen, ob die Stadt Bensheim gerade keine anderen Sorgen hat, als einen Klimaschutzplan.“, richtete sich Erste Stadträtin Nicole Rauber-Jung am Mittwochabend an die Gäste im Bürgerhaus. Und natürlich: Angesichts der desaströsen Haushaltslage könnte man die Angelegenheit bequem vertagen – zumal der Klimaschutz derzeit weltweit auf den hinteren Plätzen sitzt und um Beachtung kämpfen muss. Diese Untätigkeit wird allerdings dazu führen, dass es für die folgenden Generationen umso ungemütlicher wird.
Schon der Start auf kommunaler Ebene kann etwas bewegen, wenn alle – Gesellschaft, Wirtschaft und Politik – mitmachen. Die Bensheimerinnen und Bensheimer waren nun dazu eingeladen, den Masterplan Klimaschutz II kennenzulernen, zu diskutieren und mitzugestalten. Besonders gut kam dabei das interaktive Format der Veranstaltung an. Fachlich sehr kompetent beantwortete Dr. Maria Real, Geschäftsführerin des Beratungsunternehmens Net Positive Cities, die den gesamten Prozess begleitet, die zahlreichen Fragen der Gäste. Unterstützt wurde sie von Nicolas Fröhlich, der durch den Abend moderierte.
Gespräche zu Gebäudesanierung, Konsum und Gewohnheiten
Weil der Klimawandel ein emotionales Thema ist, bei dem viele unterschiedliche Ansichten aufeinanderprallen, waren die Gäste zunächst aufgefordert, sich in kleinen Gruppen zusammenzufinden und sich zu drei Fragen auszutauschen: „Haben Sie in den vergangenen sechs Monaten Maßnahmen ergriffen, um Ihren persönlichen CO2-Ausstoß zu verringern?, Was bedeutet Klimaschutz für Sie persönlich? Welcher Sektor verursacht Ihrer Meinung nach in Bensheim die meisten Treibhausgasemissionen?“
Schnell begannen rege Gespräche zu Sanierungsmaßnahmen im Eigenheim – Installation von PV-Anlagen oder Wärmepumpen –, zur Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel oder dem Rad oder dem generellen Konsumverhalten.
Nach dieser Runde zum Warmwerden tauchte Maria Real tiefer in die Materie ein. Das Ziel des Masterplans: Die Stadtverwaltung und ihre Betriebe sollen bis 2035 klimaneutral arbeiten, für die gesamte Stadt soll dieses Ziel 2040 erreicht sein. Mit diesem Jahr ist man der Bundesebene um fünf Jahre voraus. Grund hierfür sind die Förderrichtlinien, anhand derer der Masterplan ausgearbeitet wurde.
In welchen Sektoren die meisten Emissionen freigesetzt werden
Die Publikation macht drei Sektoren aus, die in Bensheim die meisten Emissionen freisetzen. Erstens, der Verkehrssektor: Die Treibhausgasbilanz der Stadt Bensheim für das Jahr 2022 zeigt Gesamtemissionen von 314 Tonnen CO2-Äquivalenten, wobei der Verkehrssektor mit einem Anteil von 50 Prozent der größte Emittent ist. Der Energieverbrauch im Verkehrssektor betrug im Jahr 2022 rund 455 Gigawattstunden, was zu 142 Tonnen CO2-Emissionen führte.
Der Strom- und Wärmeverbrauch: Im Bereich Strom- und Wärmeverbrauch lag der Gesamtenergieverbrauch im Jahr 2022 bei 538 Gigawattstunden, was zu 144 Tonnen CO2-Emissionen führte. Die größten Verbräuche entfallen auf Wohngebäude (49 Prozent des Gesamtverbrauchs), Industriegebäude (26 Prozent), Gewerbegebäude (20 Prozent) und öffentliche Gebäude (ein Prozent).
Außerdem die Strom- und Wärmeerzeugung: Bei der Strom- und Wärmeerzeugung produziert Bensheim derzeit insgesamt 3,8 Tonnen CO2-Äquivalente. Der größte Teil des Stroms wird importiert, während die lokale Erzeugung zu 57 Prozent auf fossilen Energieträgern basiert und zu 43 Prozent durch erneuerbare Energien wie PV-Anlagen auf Dachflächen gedeckt wird. Um die Energiewende zu schaffen, sind ambitionierte Maßnahmen notwendig, darunter der Ausbau von Dach-PV-Anlagen, vieldiskutierten Windkraftanlagen, Solarparks, die Nutzung geothermischer Wärme, die Einbindung von Wasser- und Abwärme sowie die verstärkte Nutzung von Biomasse und Biogas.
Welche wirkungsvollen „Hebel“ könnte die Stadt umlegen?
Die Vorbereitung wie auch die Umsetzung dieser Maßnahmen binden eine breite Palette von Akteuren ein, darunter Verwaltung, Wirtschaft und Vereine, und nutzt wissenschaftliche Methoden zur Definition von Zielen und Maßnahmen. „Worum es nicht geht, ist in Unternehmensprozesse einzugreifen oder Maßnahmen konkret zu adressieren“, erklärte Real. Vielmehr definiert der Masterplan Klimaschutz II sogenannte „Hebel“, die in Bensheim umgelegt werden können, von einer fossilen hin zu einer klimaneutralen Aktivität. „Ein ganz einfaches Beispiel hierfür wäre, vom Auto auf das Rad umzusteigen.“ Diesel und Benziner verursachen im Verkehr die meisten Emissionen und haben den größten Energieverbrauch. Danach folgen die leichten Nutzfahrzeuge. Im Masterplan wird die konkrete Wirksamkeit dieser Hebel – also wie viel Emissionen das Umlegen einsparen kann – angegeben.
Je größer der Hebel ist, desto größer seine Auswirkung in Richtung Klimaneutralität. Es gilt also, möglichst viele von ihnen in Bewegung zu setzen. „Würde die Stadt nichts tun, würden die Emissionen bis 2040 um weitere neun Prozent steigen“, so Real. Damit die Stadt ihre Ziele erreichen kann, ist sie neben dem eigenen Engagement von externen Faktoren abhängig, etwa der Gesetzgebung von Land, Bund und der EU.
Kritische Fragen, vor allem zur Finanzierung der Maßnahmen
Eine wichtige gemeinsame Aufgabe bei der Umsetzung der Ziele ist es, alle Akteure genau dort abzuholen, wo sie mitwirken können. „Die breite Masse muss den Klimaschutz mittragen. Eine junge Familie hat dabei andere Bedürfnisse als eine ältere Person.“ An dieser Stelle waren alle Anwesenden deswegen eingeladen, Anregungen und Kritik an die Referentin zu richten. Eine Frage, die in Bensheim in den kommenden Jahren wohl bei allen Vorhaben eine Rolle spielen wird: Wer trägt die Kosten?
Bis sich die Lage verbessert, werden die vorgeschlagenen Maßnahmen über Fördertöpfe finanziert werden müssen. Über die Reihenfolge der Umsetzung soll die Verwaltung entscheiden. „Wir werden nach und nach angemessene Vorschläge aus dem Masterplan unterbreiten“, sagte Nicole Rauber-Jung. Danach ist die Stadtpolitik gefragt. Auf den Weg gebracht werden soll der Masterplan Klimaschutz II Anfang des neuen Jahres.
Die Bürgerinnen und Bürger brachten zahlreiche Vorschläge zur Ergänzung des Klimaschutzkonzeptes ein, etwa dazu, wie man alle Altersgruppen in Sachen Klima mit entsprechenden Formaten abholen könnte. Im Bürgerhaus waren an diesem Abend eher die älteren Semester anwesend. Angeregt wurde der Ausbau eines attraktiven ÖPNV sowie von Real die Einrichtung sogenannter „One-Stop-Shops“, Orte, an denen Interessierte ein Komplettpaket zum Thema Sanieren oder Wärmeversorgung erhalten können, von der Beratung bis zur Umsetzung. Das stieß auf großes Interesse.
Selbst wenn Bensheim all seine Ziele erreicht, kann die Stadt nur dann klimaneutral werden, wenn auch die höheren Ebenen ihren Worten Taten folgen lassen. „Ob man die klimatischen Entwicklungen ernst nimmt, kann jeder selbst entscheiden. Die Folgen des Klimawandels sind mittlerweile täglich in den Nachrichten präsent.“ Für Real zuletzt auch im Privaten: „Mein Mann kommt aus Valencia.“
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