Geschwister-Scholl-Schule

Bensheimer Geschwister-Scholl-Schule lässt die "Goldenen Zwanziger" auferstehen

Von 
Thomas Tritsch
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Bensheim. Wildes Nachtleben, charmante Eleganz und künstlerische Blüte: Der Mythos der 1920er Jahre wird gerne beschworen. Ein Jahrhundert später umso mehr. Dabei ging es den wenigsten Zeitzeugen wirklich gut. Es ist eher der Kontrast zwischen dem grauen Schatten des Ersten Weltkriegs und dem Glamour der kulturellen Avantgarde in den Metropolen, was die Dekade in der Rückschau als golden erscheinen lässt.

Sinnbild des Aufbruchs

Die Zwanziger Jahre als Sinnbild des Aufbruchs aus der miefigen Kaiserzeit in eine neue, kulturell, politisch und gesellschaftlich bewegte Ära voll unbändiger Lebensgier, Experimentierfreude und dem Abstreifen überholter Sitten? Ein Mythos, der erst in der Retrospektive geschaffen wurde – mit einem ordentlichen Schuss Romantik und ästhetischer Idealisierung. In Wahrheit war die Weimarer Republik mit bleiernen Hypotheken belastet, das Kriegstrauma saß tief und die Menschen balancierten zwischen kurzlebigem Wohlstand und langer Arbeitslosigkeit.

An der Geschwister-Scholl-Schule wurde diese Zeit jetzt als facettenreiches Mosaik nachgezeichnet und in seiner Komplexität ausgeleuchtet. Unter dem Titel „100 Jahre 20er Jahre“ haben über einhundert Schüler der Q2-Phase aus den Fächern Kunst, Musik und Darstellendes Spiel eine Zeitreise aus Szenen, Bildern und Klängen inszeniert. Ein aufwändiges Medienprojekt, das an der kooperativen Gesamtschule in dieser Form bislang einzigartig ist. Am Samstag hat die GSS die Ergebnisse der Öffentlichkeit präsentiert. Auf einem Rundgang durch einen Stationen-Parcours erlebten die Gäste außergewöhnliche Formate wie Performances, Tanz, Installationen, Video, Musik, szenische Darstellungen und vieles mehr. Von Montag bis Mittwoch wurden die Darbietungen vormittags noch einmal schulintern für die einzelnen Klassen angeboten.

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Die thematische Spannweite reichte von Kaiser Wilhelm bis zu Hitler, vom schillernden Nachtleben bis zum Schulunterricht in Weimarer Zeiten, von der aufkeimenden wirtschaftlichen Blüte bis zum Kurszusammenbruch am Schwarzen Freitag im Oktober 1929.

Marco Neumann aus dem Kunst-Kurs hat einen kahlen Raum mit angesengten Geldscheinen, leeren Flaschen und einem Eimer Asche als Krisen-Installation gestaltet. Eine Aktion, die beispielhaft gezeigt hat, worum es den Machern ging: Um eine kritische, kreative und reflektierte Auseinandersetzung mit Fakten und Mythen, die nicht nur zu einem anderen Blick auf diese Epoche anregen, sondern auch noch unterhalten sollte. Und das ist den Akteuren in jedem Fall gelungen.

Orts- und Szenenwechsel: Im Foyer der Sporthalle öffnete „The Golden Bar“, wo schwere Jungs und leichte Mädchen im ausgebremsten Charleston-Tempo beim Kartenspielen ihre Zeit totschlagen und auf ein (Wirtschafts-)Wunder warten. Eine Sängerin bringt etwas Glanz in die Hütte, singt – leicht ironisch – „What a Wonderful World“, während sich der Chef und Barkeeper mit einem Service-Girl anlegt. Die Lady fliegt raus, der Job ist futsch. Und das in einer Zeit, in der die deutsche Regierung die Notenpresse anwirft und mit Nullen jongliert. Die Preise explodieren, Löhne sind nichts mehr wert. Mit der Folge, dass auf einmal nur der Augenblick zählt.

Genuss und Rausch

In einem Nachtclub (im Kunst-Gebäude) wird freizügig getanzt und heftig gesoffen. Die Menschen leben im Moment, Genuss und Rausch spielen die Hauptrolle. Ein Lude kassiert seine Bordsteinschwalben ab, ein Bettler geht leer aus. Kunstlehrer Ulrich Faudt und weitere Kollegen beobachten die Szene, die sich hier mit großem Ensemble aller Fachbereiche über drei Etagen erstreckt. Der Kaiser dankt 1918 ab, eine Verfassung kann er nicht gebrauchen. „Gegen Demokraten helfen nur Soldaten!“ Doch das Volk ist kriegsmüde. Wilhelm II. haut ab ins niederländische Exil. Dort gibt es wenigstens was zu rauchen, sagt die resignierte Pickelhaube und lässt die Revolution an sich vorbeiziehen.

In der Schulstraße hat eine andere Gruppe eine Szene vorbereitet: Mit dem Zusammenbruch der Aktienmärkte folgte weltweit eine Banken- und Kreditkrise. In Deutschland begann das im Juli 1931. Aufgrund des Vertrauensverlustes in die Geldinstitute kam es vor Banken zu großen Ansammlungen besorgter Kunden, die ihre Ersparnisse abheben wollten.

Als Reaktion auf den großen Einlageabfluss und um die eigene Liquidität aufrecht zu erhalten, forderten die Banken ihrerseits Kundenkredite zurück. Das führte zu zahlreichen Insolvenzen und Bankrotten von Unternehmen. Die Wirtschaftskrise öffnet schon die Bühne für die radikalen Parteien. Am Horizont marschieren längst die Nazis. Mit populistischen Parolen agitierten sie gegen Republik und Demokratie.

Der Weimarer Republik trauten immer weniger Deutsche einen Ausweg aus der Krise zu. Das Volk ist verzweifelt, und aggressiv: Ein Passant schlägt einen Bettler und kommt vor Gericht. Der Bankschalter verwandelt sich in einen Richtertisch. Die schulische Architektur wird in die Szene integriert.

Die ganze Schule war ein Kunstraum. Schülerinnen nähten 20er Jahre Kleidung, ein Musik-Kurs widmete sich dem Jazz und Swing dieser Zeit. Eine Kunstklasse zeigt von Otto Dix inspirierte Motive, auf einem dadaistischen „Jahrmarkt der Zwanziger“ angelt sich das Militär neue Soldaten, während sich andere beim „Granatenweitwurf“ vergnügen.

Der Krieg als Versprechen, und als dunkle Bedrohung. Parallelen zur Gegenwart inklusive. Und auch die Parasiten kamen nach hundert Jahren wieder zurück. Damals als Spanische Grippe, heute als Corona-Virus. Kriege und Seuchen scheinen unausrottbar. Das Medienprojekt der Geschwister-Scholl-Schule bleibt im Gedächtnis.

Freier Autor

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