Lorsch. Es ist nicht alltäglich, dass Besuchern einer Veranstaltung im Paul-Schnitzer-Saal zum Abschluss kostenlos Häppchen serviert werden. Die kleinen Stärkungen, die jetzt von Mitarbeitern der TU Darmstadt dargereicht wurden, waren zudem außergewöhnlich. Wann sonst wäre man dort bislang mit Erbsenpüree, Buchweizen-Stullen und weißem Reis verabschiedet worden?
Das besondere Fingerfood war mit Bedacht ausgewählt und von studentischen Hilfskräften des Historischen Seminars selbst zubereitet worden. Es gab nämlich einen sinnlichen Eindruck von der Küche des Mittelalters und ergänzte somit ideal das Buch, das die beiden Wissenschaftler der TU des Fachgebiets Geschichte des Mittelalters Prof. Gerrit Jasper Schenk und Dr. Stephan Ebert in Lorsch vorstellten. Moderiert wurde der Abend von der Lorscherin Bettina Walter, einer diplomierten Biologin.
„Vom Buch aufs Feld – vom Feld ins Buch“ heißt der Titel des Werkes, das Schenk und Ebert herausgegeben haben. Der Band, entstanden nach einer interdisziplinären Tagung in Lorsch, beschäftigt sich mit „Verflechtungen von Theorie und Praxis in Ernährung und Landwirtschaft“ in der Zeit von 1300 bis 1600 – und damit nicht nur mit lange vergangenen, sondern auch mit heute wieder aktuellen Fragestellungen. Wie heute zum Beispiel der Klimawandel ein Überdenken der Ernährungsweisen bewirkt, eine Reduzierung des Fleischkonsums zum Beispiel, so änderten sich auch damals Konsumverhalten und der Speisezettel.
Schmeckt, ist günstig und rasch fertig
„Wir wollten Rezepte nicht 1:1 nachkochen“, erklärten die Wissenschaftler, als sie unter anderem Erbsenpüree und Buchweizen-Schnittchen sowie weißen Reis mit Mandeln und Rosenwasser servierten. Eine Wachtelbrust aus dem Mittelalter-Rezept hatten sie zum Beispiel durch Pilze ersetzt. Das „historisch inspirierte“ Fingerfood könnte aber Anregungen für zukunftsweisende Rezeptideen oder eine moderne fleischlose Kost geben.
Unterschiedlichste Essenszubereitungen mit Erbsen etwa waren einst weit verbreitet. Das kann man nicht zuletzt der Datenbank „CoReMa“ entnehmen, der Cooking Recipes of the Middle Ages.
Fragte man die Studenten, die das Fingerfood für den Termin in Lorsch gekocht hatten, dann sagten sie, dass die Zubereitung weder sehr aufwändig noch sehr teuer sei. Heutzutage muss man zudem weder Reibeisen noch Mörser nutzen, sondern könnte wohl auch einen Thermomix einsetzen. Manches Lebensmittel hatten sie selbst bisher nicht auf dem Tisch, können sich aber vorstellen, es nun öfter auch privat zuzubereiten.
Ihm persönlich seien Nudelgerichte lieber, berichtete Historiker Stephan Ebert. Auch seinen ein- und dreijährigen Söhnen aber hätten die an Milchreis erinnernden Speisen geschmeckt. Mandelmilch, ebenfalls heute wieder gefragt, wurde im Mittelalter bereits häufig verwendet. Buchweizen und Hirse gelten heute wieder als zukunftsträchtiges Nahrungsmittel.
Die Zuhörer der Buchvorstellung im Paul-Schnitzer-Saal griffen beim Fingerfood gerne zu – und die ungewöhnlichen Häppchen mundeten ihnen. Gereicht wurde dazu ein Weißburgunder, eine Sorte, die seit dem 14. Jahrhundert belegt ist, wie die Historiker mit einem „Wohl bekomm´s“ unterstrichen. sch
Schenk erinnerte etwa an die Entdeckung Amerikas und die neuen Pflanzen, die die Entdecker mit in ihre alte Heimat brachten: Tabak zum Beispiel und Mais, wobei der Tabak zuerst als Medizinalpflanze verwendet wurde. Man schätzte seine betäubende Wirkung, die Reduktion des Hungers und Anregung der Verdauung.
Bei einem heutigen Gang durch den Supermarkt könnte man meinen, die meisten Lebensmittel esse man hierzulande schon immer. Auch Salat und Brokkoli aber kamen erst im Hochmittelalter in unsere Regionen. Weißer Reis war besonders kostbar und teuer. Er galt als rein und gesund und war gut für den Magen – und wer es sich leisten konnte, zahlte unfassbar stolze Preise dafür. Die Kartoffel wurde sogar erst im 18. Jahrhundert einigermaßen selbstverständlich für die deutsche Kost.
Unsere Vorfahren hatten ebenfalls auf klimatische Veränderungen zu reagieren. Die „Kleine Eiszeit“ machte ihnen zu schaffen. Die „Medienrevolution“ des 15. Jahrhunderts – der Buchdruck wurde erfunden – erweiterte zugleich das Wissen über Botanik und Agronomie. Auch viele der Fragen, die heute diskutiert werden, haben sich Menschen im Mittelalter bereits gestellt. Die Zisterzienser haben schon darüber nachgedacht, wie sich Erträge optimieren lassen. Ab dem 15. Jahrhundert machte sich nämlich ein Bevölkerungsanstieg bemerkbar. Zuvor hatte im 14. Jahrhunderte die Pest große Landstriche entvölkert.
Schenk, Ebert und Walter beantworteten auch gerne Fragen der interessierten Zuhörer. Wie gelang es Menschen damals, immer etwas zum Essen und damit zum Überleben zu haben? Wie machten sie Lebensmittel haltbar, als es weder Kühlschrank noch Gefriertruhe gab? Es wurde geräuchert und eingesalzt, was allerdings teuer war. Lebensmittel wurden in Erdgruben gelagert und es wurde mit Kräutern gearbeitet. Manches wurde mit Safran gewürzt und gefärbt und sah dann zumindest weniger schnell verdorben aus.
Viele Menschen starben qualvoll, von Lebensmittelsicherheit war man weit entfernt
Von heute selbstverständlicher Lebensmittelsicherheit war man damals noch meilenweit entfernt. Diesbezüglich dürfe man dem technischen Fortschritt sowie der EU und ihren Vorgaben und Kontrollen dankbar sein, so die Forscher. Vom Mutterkorn etwa, dem auch heute noch gefährlichen Getreidepilz, wusste man einst jedenfalls noch wenig und schützen konnten sich die Verbraucher noch viel weniger. Zahlreiche Menschen starben sehr qualvoll an den Folgen der Mutterkorn-Vergiftungen. Und natürlich wurde auch gepanscht. Selbst das weltberühmte Reinheitsgebot für das bayerische Bier gibt es es erst seit dem 16. Jahrhundert.
Die angenehmen Temperaturen in der Rheinebene und an der Bergstraße ermöglichten in diesen Regionen auch schon in früheren Zeiten eine vergleichsweise abwechslungsreiche Ernährung. Kirschen, Birnen, Nüsse und Wein haben hier eine lange Geschichte. Dass Mönche dank besserer Ernährung im Durchschnitt älter wurden als Bauern, war Zuhörern im Paul-Schnitzer-Saal bereits durch wissenschaftliche Knochenuntersuchungen bekannt, über die an der Welterbestätte informiert wird.
Woher wissen die Historiker, was damals auf den Tisch kam? Zum einen aus schriftlichen Quellen wie Berichten, Korrespondenzen und Rechnungen. „Wir sind sehr textlastig“, räumten die Historiker ein. Nur wenige Menschen aber konnten damals lesen und schreiben und auch Kochbücher waren nicht für Laien, sondern für Gelehrte verfasst. Mengenangaben sucht man dort überdies vergeblich. Zu Lebensmitteln, die nicht abgabepflichtig waren, fehlen Daten sowieso. Um Texte zu verifizieren, sind deshalb Latrinen-Ausgrabungen hilfreich. Findet man dort zum Beispiel Kirschkerne, kann man diese wissenschaftlich datieren lassen.
Dinkel, der heute dank seiner Mineralien wieder eine Renaissance zumindest bei gesundheitsbewussten Menschen erlebt, gehörte zu den wichtigsten Getreidearten des Mittelalters. Von einer „Verdinkelung des Spätmittelalters“ sprach deshalb Gerrit Schenk. Dass von Roggen auf Dinkel umgestellt wurde, dokumentiert nicht zuletzt das Dinkelstroh in alten Fachwerkbauten.
Zum Essen allgemein erinnerten die Historiker daran, dass oft ein Teller für alle auf den Tisch kam, Brot als Unterlage diente, die meisten einen Löffel hatten, die Gabel erst sehr spät als persönliches Besteck selbstverständlich wurde.
Lorsch bezeichneten die Historiker als einen „Hotspot“. Sein reiches Kloster und das heutige Freilichtlabor Lauresham, das Wissenschaftlern exzellente Möglichkeiten bietet, die Landwirtschaft von früher zu erforschen, wurde gelobt. In Lauresham kann unter anderem etwa das Phänomen der Wölbäcker – das ist eine besondere Form der Pflugtechnik – in der Praxis untersucht werden.
Auch das „Lorscher Arzneibuch“, entstanden im achten Jahrhundert im Lorscher Kloster, ist ein Wissensschatz für Forscher. Die Handschrift gilt als ältestes heilkundliches Buch des abendländischen Mittelalters.
Neues Buch informiert über Ergebnisse der Tagung in Lorsch
Der von Stephan Ebert und Gerrit Schenk herausgegebene Sammelband „Vom Buch aufs Feld – vom Feld ins Buch“ ist 2025 im Kohlhammer Verlag erschienen, umfasst 414 Seiten und ist im Buchhandel erhältlich. Er ist das Ergebnis einer interdisziplinären Fachtagung, zu der die beiden Herausgeber Wissenschaftler 2022 in Lorsch versammelt hatten.
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