Wahrscheinlich werden mich alle nach dieser Kolumne für verrückt halten. Aber egal: Neulich, es war schon spät am Abend, also dunkel, und alle Kollegen waren längst verschwunden, tat ich, was ich nicht hätte tun sollen: Ich öffnete den Schrank. Es ist jetzt nicht das, was man vielleicht denkt, und nein: Es kam mir nicht – wie in einer schwarzen Komödie – in der dunklen Einsamkeit ein toter Körper oder gar ein klapperndes Skelett entgegen, nein: Es war mein gesamtes Leben als Journalist, das auf mich herabfiel.
Ich habe nicht gezählt, aber viele Hunderte, ach was, Tausende Programmhefte liegen in dem Schrank. Sie starrten mich mit großen Augen an und sagten: Schau, so viel deines Lebens hast du in Berlin, Zürich, Cottbus, Potsdam, Brandenburg, Bayreuth, Salzburg, München, Basel, Konstanz, Münsterlingen, Winterthur, Heidelberg, Ludwigshafen, Landau, Neustadt, Dubai, Madrid, Alcantara, Milano, St. Gallen und – ich höre jetzt mal auf, denn sonst wird das zu lang(weilig) – weiß der Teufel noch wo in Konzert-, Opern-, Rat-, Ausstellungs- und anderen Häuser verbracht. Meistens in der ungesunden Position auf vier schrieb ich tausende Stunden lang unzählige Buchstaben in Notizhefte hinein. Nehmen wir mal an, es wären 12 000 Stunden ergo 500 Tage à 24 Stunden gewesen – damit hätte ich ein Jahr und 135 Tage pausenlos in einem der genannten Häusern gesessen und mir Notizen gemacht. Das ist bestimmt nicht gesund.
Mich ergriff das blanke Entsetzen: All die Morde und Intrigen, die ich erlebte, all die hintergangenen Liebenden und Herrscher, all das Blut, das floss, all die Dolche, die in Leiber stießen, all das Gift, das zuerst in Getränke geträufelt wurde und dann Kehlen hinunter rann. Ich sah Lady Macbeth vor mir und bekam Angst. Ich sah den Stein gewordenen Komtur und mich fror. Ich sah, nein, spürte, wie der Nibelungenspross Hagen Siegfried sein Schwert in den Rücken wuchtet, dort, wo ihn das Drachenblut aufgrund eines Lindenblatts nicht schützt, und verspürte selbst einen Stich im Rücken. Ich drehte mich um, aber Hagen war nicht da. Zum Glück. Er war verschwunden. Ich war allein.
Ich habe mich vollen Ernstes gefragt: Können wir nach allem, was passiert war, noch zusammenbleiben, mein Schrank und ich? Was, wenn ich das ganze Zeug auf die Straße stelle wie andere ihren Kram, ihre Klamotten oder ihren Kühlschrank, wie es heute ja gang und gäbe ist. Auf der anderen Seite: Der Schrank ist Teil meiner Biografie, also von mir, und als solchen Teil muss ich ihn ja zumindest um Einverständnis bitten, bevor ich ihn entsorge.
Erwartungsgemäß war der Schrank ziemlich schockiert über die Frage. Er schickte mir Lulu und Jack the Ripper auf den Leib: Die beiden sangen in einer seltsam surrealistischen Melodie, dass Erinnerungskultur doch wichtig sei, dass kein Mensch nur im Augenblick lebe, sondern immer im Moment des Punktes, an dem Zukunft Vergangenheit werde, wie solle man sonst aus Fehlern für die Zukunft lernen? „Wehe dir“, skandierten Lulu und Jack the Ripper, und schlossen mit dem Satz: „Du willst es doch auch nicht.“
Schreiben Sie mir: mahlzeit@mannheimer-morgen.de
URL dieses Artikels:
https://www.bergstraesser-anzeiger.de/leben_artikel,-ansichtssache-der-schrank-spricht-du-willst-es-doch-auch-nicht-_arid,2267696.html