Kolumne #mahlzeit Debatte um Freiheit und Zumutung zeitgenössischer Musik

Ein Konzertbesuch von Kolumnist Stefan M. Dettlinger mit Alya und Caro entfacht eine hitzige Debatte über die Freiheit und Zumutung zeitgenössischer Musik.

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Stefan M. Dettlinger
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Ich gehe seit einer Ewigkeit in Konzerte. Ich höre Alte Musik. Ich höre Klassik. Ich höre romantische Musik. Ich höre Musik der Moderne, des Serialismus, der Postmoderne, der Neoromantik, der Neoklassik, des Pop, des Rock, des Jazz, ja, ich liebe Jazz. Vielleicht liegt es am Alter, aber ich empfinde es als zunehmend befremdlich, wenn ich zur zeitgenössischen Musik gehe (die ich liebe) und sehe, wie sie in einem Blubberbläschen spielt. Komponisten hören ihrer eigenen Musik und der anderer Komponisten zu. Dazu zwei bildende Künstler, drei Multiplikatoren, die eh überall sind, ich und mein Bleistift.

Deshalb habe ich Alya und Caro zur zeitgenössischen Musik mitgenommen. Mich hat die Reaktion unabhängiger Freigeister interessiert. Und weil wir danach noch auf ein Gläschen (okay, zwei Flaschen) beim Italiener waren, hat sich sogar ein Dramolett entwickelt. Alya eröffnete es mit verschmitztem Lächeln: „Nee, ehrlich, ich feiere das! Ich meine, wie groß ist das denn, dass Musik endlich mal aufhört, nett zu sein? Keine Melodie, kein Mitsummen, null Gefallsucht.“ Caros Nüstern beben. Da stehe jemand auf und mache, was er wolle, so Alya: „Ein Furz im Wasser, ein verzweifeltes Fiepen, ein übersteuerter Verstärker. Endlich Musik, die nicht gefallen will! Das ist Freiheit. Das habe ich nie erlebt, dass das Unhörbare auf diese Weise hörbar wird. Selbst, wenn es wehtut. Gerade dann!“

Caro verzieht das Gesicht. „Was für eine abscheuliche Freiheit, in der alles gleichgültig, alles beliebig ist und in bodenlose Bedeutungslosigkeit stürzt? Diese Freiheit erzeugt das Geräusch von Leere, den Klang von Hilflosigkeit, okay, sorry, Fortschritt.“ Caro schaut tief ins Glas. Fortschritt ins Nichts, sagt sie, ins kalte, das Publikum beleidigende Nichts. Eine erbärmliche Anbiederung an den Zeitgeist!

Genau das sei doch der Punkt, so Alya. Dieser uralte Reflex: „Mir tut’s weh, also kann’s nichts sein! Mann, da sitzen …“ „Frau“, interveniert Caro. Alya: „Wie bitte?“ Caro: „Ich bin eine Frau!“ Alya: „Ich weiß.“ Caro: „Warum sprichst du mich dann mit man an.“ „O Mann, Frau, egal, du bringst mich noch zur Verzweiflung!“, macht Alya genervt weiter, „da sitzen also 27 Menschen mit gespitzten Ohren, hören, wie jemand einen Stuhl krachen lässt, zehn Minuten Stille, dann wieder ein Pieps – und alle denken: Was will uns das sagen? Das ist doch herrlich, endlich Musik, die sich allem Semantischen entzieht.“

Dass Caro noch alle Karten zieht und sagt, das Meer an Steuergeldern würde anderswo dringender gebraucht, dass sie sagt, bei dieser Art von Kunst sei man sich nie sicher, ob sie genial oder kompletter Hurz sei, versteht sich von selbst. Ich werde nie wieder ein Konzert mit zeitgenössischer Musik besuchen können, ohne im Hintergrund diesen Streit zu spüren, wie Caro noch sagt: „Diese Musik ist eine Zumutung!“, worauf Alya meint: „Eben, man müsse den Leuten auch was zumuten, das ist wichtig, außerdem bist du auch eine Zumutung, Caro.“ Und dann verwandelt Caro den Matchpoint: „Dann findest du mich also auch gut?“

Schreiben Sie mir: mahlzeit@mannheimer-morgen.de

Ressortleitung Stefan M. Dettlinger leitet das Kulturressort des „MM“ seit 2006.

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