Es muss während der Nacht geschehen sein. Irgendwer war da und hat Blumen aufs Grab gelegt, rosa Nelken oben an den Rand der schweren Steinplatte mit der Gravur, dazu ein paar Münzen ans Fußende. Am Abend zuvor waren sie noch nicht da, am Morgen spielt der Wind mit den Blüten des Straußes. Der Mann, der hier bestattet ist, bekommt oft Besuch, mancher kommt seinetwegen nach Saint-Paul-de-Vence im Hinterland der Côte d’Azur: um sich den 3500-Einwohner-Ort anzuschauen, der den Maler Marc Chagall während seiner letzten fast 20 Jahre inspiriert hat.
Und vor allem, um für sich einen Hauch von dieser Stimmung einzufangen – am Morgen oder abends, wenn die meisten Tagesbesucher noch nicht da oder bereits wieder in ihre Küstenferienorte aufgebrochen sind.
Frankreich
Anreise Flug ab Stuttgart mit KLM via Amsterdam, www.klm.com. Mit dem Zug via Karlsruhe und Marseille Saint-Charles nach Nizza, www.bahn.de.
Unterkunft Doppelzimmer im Hotel Les Orangers einen Kilometer vom Zentrum von Saint-Paul-de-Vence ab 125 Euro, im Les Bastides de Saint-Paul drei Kilometer außerhalb ab 139 Euro (beides über www.booking.com). Doppelzimmer im La Colombe d’Or ab rund 280 Euro, www.la-colombe-dor.com
Essen und Trinken Sehr beliebt ist das einfache Restaurant La Fontaine mitten in Saint-Paul-de-Vence, das auch außerhalb der Saison geöffnet ist (keine Homepage). Das Le Saint Martin im Hotel Le Château Saint Martin bei Vence ist mit einem Michelin-Stern ausgezeichnet und öffnet erst am 1. Mai 2025 wieder. www.oetkercollection.com. Berühmtestes Restaurant ist das La Colombe d’Or (www.la-colombe-dor.com) direkt am Ortseingang.
Buchtipp Vom Autor dieses Beitrags ist der Reportagen-Band „Côte d’Azur - Vom Duft des Lavendels und der Millionen“ erschienen (Picus Verlag, 16 Euro).
Allgemeine Informationen Französische Zentrale für Tourismus, www.france.fr; www.cotedazurfrance.fr. HSO
1966 ist der Künstler hierhergezogen, damals längst weltberühmt für seine schwebenden Figuren vor oft blauen Hintergründen, für seine Engel, für sakral anmutende Gemälde in intensiver Farbigkeit. Fast 80 Jahre alt war er da bereits. 1985 ist er gestorben, bestattet auf dem Friedhof am südlichen Ortsrand.
Chagall-Pilger legen oft Blumen am Grab nieder, als wollten sie ihrem Helden etwas zum Hausbesuch mitbringen. Und manche legen als Zeichen der Wertschätzung noch eine Münze dazu. Und keiner stiehlt sie. Still ist es hier, ganz anders als im Ort, durch den sich in der Saison die Besuchermassen schieben. Die Kieselsteinchen der Wege zwischen den Gräbern knirschen unter den Schritten, sind morgens noch feucht vom Dunst der Nacht. Zypressen säumen das Areal. Menschen, die hier die Reihen abschreiten und auf der Suche nach der Ruhestätte des prominenten Bürgers sind, haben die Hände hinter dem Rücken verschränkt, als wüssten sie nicht, wo sie sie lassen sollten - und schweigen. Sie schicken ihre Gedanken auf die Reise, ehe sie wieder durch die Friedhofspforte und weiter durchs mittelalterliche Tor in die Gassen des Festungsortes zurückkehren.
Am schönsten ist es in Saint-Paul, keine zehn Kilometer von den Vororten Nizzas, keine 20 von Antibes entfernt dann, wenn nur die wenigen Anwohner und Gäste der kleinen Hotels einen Abendspaziergang machen. Wenn jemand den Klappstuhl vor die Haustür stellt und es sich mit einem Buch in der Hand in der milden Luft gemütlich macht. Wenn aus einem Fenster Brahms oder Mozart erklingt – oder Klezmermusik, die so gut zu Chagalls Bildern mit den schwebenden Instrumenten passt. Und zu seiner russischen Herkunft, seinem jüdischen Glauben. Oder wenn kurz nach Sonnenaufgang die ersten zwei, drei Anwohner zum Hundespaziergang durch die leeren Gassen ins Freie treten.
François Roux erinnert sich noch ganz genau an den Maler: „Meist war er mittags da. Und am liebsten saß er im Freien auf der Steinbank gleich neben dem Hauseingang auf einem Kissen, mit dem Rücken an der Natursteinwand, vor sich ein Tischchen. Die meisten Gäste kannten Chagalls Kunst, aber nicht sein Gesicht. Er konnte bei uns ungestört essen.“ Wahrscheinlich hat auch keiner angenommen, Chagall würde derart öffentliche Auftritte in Saint- Paul haben und zum Mittagessen im Restaurant La Colombe d’Or am Ortseingang einkehren. Schon Picasso und Matisse hatten hier gespeist – und in den Räumlichkeiten hängen Originale dieser Künstler in Öl an den Wänden, als wäre es das Normalste der Welt. Wie der Händedruck des Malers war, daran erinnert sich Gastwirt und Hotelier Roux nicht mehr. Aber an sein Lächeln. Und an das von Curd Jürgens und James Baldwin, die ebenfalls Häuser hier hatten. Und oft vorbeikamen. Anderswo im Ort erzählen sie von Madame Chagall: davon, dass sie beim Kaufmann in der Warteschlange gern vorgelassen werden wollte. „Der Meister wartet, es ist eilig“, soll sie gesagt haben – und man ließ sie mit einem Schulterzucken gewähren.
Was aber macht den Zauber von Saint-Paul-de-Vence aus, worin steckt die Inspiration, das Besinnliche – damals mehr als heute? Es sind die schmalen gepflasterten Gassen, durch die an vielen Stellen kein Auto passt, die niedrigen Tore, die wehrhaften Mauern des äußeren Gebäuderings, es ist dieses bestens erhaltene oder instand gesetzte Mittelalter-Antlitz, dieses vollständig in sich geschlossene Ortsbild ohne einen einzigen gemauerten Fremdkörper. Die Häuschen passen zueinander, die Terrassen der Cafés und Restaurants stören nicht, schrille Werbung gibt es nicht. Es ist das Licht, die Luft, der Eindruck, die Zeit stünde still, jedenfalls ein wenig.
Und es ist die Gewissheit, dass das Gebäude-Ensemble nicht einfach nachgebaute Kulisse, sondern wirklich bewahrt ist. Im Hochsommer ist es nicht immer einfach, in so eine Stimmung zu finden: Es hat sich längst herumgesprochen, wie schön Saint-Paul-de-Vence ist, und dass seit den 1940er und 50er Jahren viele große Künstler hierherkamen – und Chagall schließlich nach Jahren in den USA, am Cap Ferrat und in Vence Bürger dieses Bilderbuch-Dorfes geworden war. Die wenigsten von denen, die sich von dieser Altstadt verzaubern lassen, wissen, dass Chagall außerhalb an der Straße Chemin des Gardettes in gut 20 Minuten Fußweg Entfernung im Haus La Colline gewohnt hat. Von der Straße aus ist das Anwesen uneinsehbar, obendrein längst verkauft. Seine Mosaike, die es dort gab, sind entfernt. Der Gärtner, der dort werkelt, ist zu einem Späßchen aufgelegt: „Chagall? Hier? Ich habe ihn lange nicht gesehen.“
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