Von „Autofiktion“ ist seit einigen Jahren viel die Rede, von einer Form der Literatur, für die auch die französische Nobelpreisträgerin Annie Ernaux oder der norwegische Bestseller-Autor Karl Ove Knausgard stehen. Der alten Streitfrage, ob belletristische Literatur vor allem aus anderer Literatur schöpfe und fiktiv sei oder eher dem realen Erleben der Autorenpersönlichkeit sich verdankt, fügt solches Erzählen eine Facette zugunsten des wirklichen Erlebens hinzu. Und so schreiben eben manche nah an der Person des Autors entlang und bringen diese mit der Erzählerfigur (fast) zur Deckung.
Das galt freilich schon für Marcel Proust. Für dessen Ich-Erzähler Marcel war eben auch bereits zu betonen, dass er nicht schlicht mit dem Autor gleichzusetzen sei. Denn die Kunst besteht auch dort, wo viel aus der Erinnerung geschöpft wird, im Erzählen - in Wortwahl und Sprache und darin, dass etwas bildlich ausgedrückt ist, dass ausgeschmückt, zugespitzt wird auf einen Kern hin, der eben Sprachkunst ist.
Die ständige Überforderung wird greifbar
Das gilt auch für die Schriftstellerin Angelika Klüssendorf, die seit ihren Anfängen als Autorin stark aus der eigenen Biografie schöpfte, erst recht in ihrer bekanntgewordenen Trilogie mit den Teilen „Das Mädchen“, „April“ und „Jahre später“. An diese knüpft sie nun im ebenfalls als Roman apostrophierten neuen Buch „Risse“ noch einmal an.
Sie geht hinter die zuvor erzählten Ereignisse zurück und handelt sodann auch weitere Erlebnisse ihrer Jugendjahre ab, bis hin zur Ausreise aus der DDR im Jahr 1985, als sie 17 war. Der Tod der Mutter, zu der sie gelinde gesagt ein problematisches Verhältnis hatte, ist der Erzählanlass; das wird zu Beginn gesagt, und dann entfaltet die Autorin in einzelnen Kapiteln, die sie selbst als Erzählungen bezeichnet, erneut einprägsame Jugenderfahrungen.
Das eigene Dasein als gescheitert empfinden
Im Zentrum stehen die Weisen, wie sie und ihre jüngere Schwester unter Mutter und Vater zu leiden hatten. Diese werden ihrer Rolle nie gerecht und kreisen vor allem um ihr eigenes Dasein, das sie als gescheitert empfinden. Greifbar wird dabei die Überforderung der oft nur „das Mädchen“ genannten Hauptfigur: Sie wird von den selbstmitleidigen Eltern, die sich bald trennen, in Situationen gebracht, in denen sie sich um jene und nicht die sich um sie kümmern müssen. Am eindringlichsten wird das im Kapitel „Hölle oder Himmel“ geschildert. Es geht dabei um die jährlich an Ostern geradewegs inszenierten Suizidversuche des Vaters, der einmal auch die etwa zwölfjährige Tochter dazu bringt, sich mit ihm in der Küche dem geöffneten Gashahn zu überantworten.
Sie habe überlebt, er dagegen nicht, schreibt sie. Die Suizidversuche gab es offenbar wirklich, der Vater aber starb tatsächlich erst viel später an Krebs. Solche Informationen werden an den Kapitelenden geliefert, wo die Autorin (oder doch wieder eine Erzählerin?) regelmäßig das Wort ergreift, die Episoden einordnet und immer wieder sagt, welche Auswege „das Mädchen“ aus der familiären Misere für sich fand: Sie las viel, flüchtete sich in Gedankenwelten, begann dann zu schreiben und reifte schließlich zur Schriftstellerin.
Es sind eindringliche, detailbewusste und eminent lebendige Schilderungen, die Klüssendorf hier gibt, meistens aus der Perspektive der Hauptfigur selbst. Einmal wird sie auch als „Nelly“ eingeführt, im Text „Eine Krankheit“, der vom Verhältnis der Ich-Erzählerin, einer Praktikantin in einem Jugendheim, zu eben jener Nelly erzählt; diese unternimmt immer wieder Fluchtversuche. Ihre Selbstständigkeit wächst am Widerstand gegen den unverständigen Heimleiter - und insgesamt am Infragestellen dessen, was in der DDR als eine Notwendigkeit behauptet wurde, etwa die zum „antifaschistischen Schutzwall“ erklärte Mauer. Einmal ist auch eine Jungenfigur der Erzähler - der freilich vor allem vom dünnen Mädchen mit den himmelblauen Augen berichtet.
Perspektiven, die Horizonte öffnen
Immer herrscht ein lakonischer Stil vor, der die Schilderungen noch nachdrücklicher wirken lässt. Die Eltern miteinander vergleichend, stellt die Erzählerin fest: „Vaters Verhalten war für mich weniger verheerend (…), weil er nicht sadistisch war“. Ein Verkäufer sagt zu der 12-Jährigen, die er bei einem Ladendiebstahl erwischt hat: „Solche wie dich hätten wir früher vergast.“ Auch die Religion kommt als Trost hier nicht infrage, denn an anderer Stelle notiert die Erzählerin bündig: „Gott war unbekannt verzogen, wahrscheinlich lebte er im Westen.“
Was Klüssendorfs Schreiben besonders macht? Hier zeigt sich wie bei aller echten Literatur, dass andere Perspektiven einen bereichern können, fremdes Empfinden buchstäblich nacherlebbar wird und Horizonte öffnet. In einer realistisch geprägten, nüchternen Gegenwart mag die Gewissheit, dass vieles, was einem geschildert wird, auf realen Vorkommnissen basiert, die Wirkung beim Lesen noch steigern - oder bei einigen gar überhaupt erst begründen.
Klüssendorfs Buch blickt auch auf den deutschen Osten, von dessen Prägungen und Vorgeschichte sie immer miterzählt. Damit liegt sie, unbeabsichtigt, klar im Trend der Zeit. Denn nicht nur im Sachbuchbereich sind entsprechende Titel gefragt, eine Rolle spielt der gegenwärtige Osten Deutschlands mit seinen Besonderheiten auch in Büchern, die sich auf der diesjährigen Longlist zum Deutschen Buchpreis fanden. Dort stand auch Klüssendorfs „Risse“, sie schaffte es diesmal aber nicht auf die Shortlist. Die längst etablierte Autorin kann das verkraften. Auf Preise hin geschrieben ist eine Literatur wie die ihre ohnehin gar nicht.
Zum Buch: Angelika Klüssendorf: Risse. Piper Verlag, 172 Seiten. 22 Euro.
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