Eine Großstadt im Zeichen der Kunst: Im nordhessischen Kassel dreht sich wieder 100 Tage lang zwar nicht alles, aber doch sehr vieles um die Documenta. Das Prädikat „Weltkunstausstellung“ steht mit Recht auch für diese 15. Ausgabe, die das indonesische Künstlerkollektiv Ruangrupa kuratierte. Die Schwerpunkte haben sich indes erneut verschoben. Der Anteil (west-) europäischer und nordamerikanischer Arbeiten dürfte so niedrig wie nie zuvor liegen. Der asiatische und afrikanische Part markiert das Gegenteil. Und höher ist auch der Anteil jener Werke, die ihren Fokus auf Natur und Umwelt richten beziehungsweise insgesamt auf Fragen einer umfassenden Gerechtigkeit. Hoch liegt zudem der Anteil künstlerischer Kollektive.
Welche Rolle spielt die bildende Kunst im gegenwärtigen Kulturbetrieb, und wird künstlerische Selbstständigkeit nicht zurückgedrängt durch Fragen der Gesellschaftspolitik, die mehr und mehr die kulturellen Institutionen dominieren? Diese Frage lässt sich nun auch angesichts der Documenta stellen. Sie begegnet einem hier freilich im Weltmaßstab, was angesichts der Verwerfungen der fortgeschrittenen Globalisierung kein Wunder ist. Und verwundern muss auch nicht, dass bereits im Vorfeld politische Fragen ins Zentrum rückten, besonders jene, ob sich unter den eingeladenen Kunstschaffenden auch antisemitische Tendenzen Geltung verschafften.
Zur Eröffnung und lange nach der Absage eines Diskussionsprogramms, das sich den Vorbehalten widmen sollte, herrscht nun erstmal Ruhe an der Debattenfront. Man wird sehen, welche Aufmerksamkeit etwa die Bildserie „Guernica Gaza“ des Palästinensers Mohammed Al Hawajiri noch finden wird. Er thematisiert Vergeltungsbombardements der israelischen Streitkräfte in Gaza und bettet sie in kunstgeschichtlich bedeutsame Szenerien. Das gelingt mit Van Gogh oder Chagall eher unverdächtig. Wenn aber mit Delacroix „Die Freiheit das Volk“ auf die Barrikaden führt, ist dies auch lesbar als Legitimation oder gar Anstiftung zu Gewalt.
Doch so oder so gilt es in Kassel zunächst eher der Kunst als solcher, freilich einer, die ganz überwiegend der erwähnten Charakteristik folgt – und dem besonderen Konzept der Ausstellungsmacher. Die künstlichen Inseln der Slowakin Ilona Németh vor dem Bootsverleih Ahoi an der Fulda beispielsweise bieten zwei Gärten Raum, die unter anderem mit Pflanzen bekannt machen, die toxische Stoffe verarbeiten. In der Karlsaue hat das kenianische Kollektiv The Nest einen Kunstbau aus lumpigen Kleidern errichtet, um auf das Problem des Exports alter Textilien und anderen Abfalls nach Afrika hinzuweisen – und dabei der Arte Povera eine Reverenz zu erweisen.
100 Tage Documenta in Kassel
- Die 15. Documenta ist ab diesem Samstag fürs Publikum geöffnet. Sie dauert 100 Tage und endet am 25. September.
- Die erste Documenta fand 1955 in Kassel statt. Sie gilt neben der Kunstbiennale in Venedig als wichtigste internationale Kunstschau. In der Nordhessenmetropole werden regelmäßig auch neue Orte mit Kunst bespielt, der zentrale Platz ist das Fridericianum am Friedrichsplatz. Es ist auch jetzt der größte Ausstellungsort.
- Am Friedrichsplatz ist auch das Besucherzentrum. Ein Tagesticket kostet in diesem Jahr 27 Euro (ermäßigt 19). Die Kunstschau ist täglich von 10 bis 20 Uhr geöffnet.
- www.documenta-fifteen.de
Anspielung auf Piratenflagge
Der Rumäne Dan Perjovschi verkleidete die Säulen des Fridericianums schwarz und malte darauf weiße Buchstabenfolgen. Das erinnert an alte Piratenflaggen. Liest man hier etwa „CEO2“ oder „humanity“, ist das wohl auf einen (zu) großen Einfluss der Wirtschaft und eine von Herrschaft bedrohte Humanität gemünzt, denn die Zeichenfolge kombiniert die Kurzform der internationalen Bezeichnung für Firmenchefs mit der Formel für Sauerstoff, und der klassizistische Kunstbau ist eben ein Beispiel für eine freilich maßvolle Herrschaftsarchitektur. Es gilt also, die Repräsentationen von Machtmechanismen piratenhaft zu entern und die Welt zu befreien. Der ästhetische Schauwert tritt bei all dem gegenüber dem kritischen Zweck erwartungsgemäß zurück.
Das Leitungsteam richtet den Blick insgesamt auf die Idee des Teilens und der Gemeinschaft. Kassel versteht es nicht als im Grunde austauschbaren Schauplatz einer überbordenden Kunstschau; die Stadt ist ihm vielmehr ein Art Ökosystem; sie soll als „Geflecht von sozialen Kontexten“ erlebt werden, in dem die Documenta „entsteht und wächst“, wie es in einer Erklärung heißt. Die Fulda als geschichtlich bedeutsamer Wasserweg und Lebensader der Stadt erhält besondere Aufmerksamkeit. Um sie herum führt der Ausstellungsweg vom Zentrum in die Nordstadt und von dort weiter in den industriell geprägten östlichen Stadtteil Bettenhausen.
Das Fridericianum selbst, erneut größter und zentraler Ausstellungsort, wird als „lumbung“ verstanden, ein Wort für eine gemeinschaftlich genutzte Scheune, womit man hier allgemeiner eine Praxis des Teilens meint. Das indonesische Kollektiv setzt westlichem Leistungsprinzip und Gewinnstreben internationale Solidarität und entsprechend einem individualistisch geprägten Kunstbegriff einen kollektiven entgegen. Im „lumbung“ geht es um Fragen einer Bildung, die niemanden ausschließt. Im Parterre ist eine Jugendkunstschule entstanden, es gibt Räume zur Begegnung, offene Werkstätten und Ateliers, in denen Kunstschaffende arbeiten, Rede und Antwort stehen und zum Mitmachen einladen. Ein Zeugnis eines erweiterten Kunstbegriffs ist auch das und gewiss keine zweckfreie Kunst, wie sie einmal prägend für die Moderne war. Hier entzieht sich nichts beharrlich einer klaren Aussage und bietet so erst Alternativen zum konventionellen Denken. Der gesuchte andere Weg liegt auf der Hand und ist durchweg politisch. Es ist die Idee einer friedlichen Weltgemeinschaft, die niemanden aufgrund von Hautfarbe, Klasse oder geografischer Herkunft benachteiligt.
Vielfalt dominiert
Dokumentiert sind zahlreiche emanzipatorische Projekte und weltweiter politischer Aktivismus. Es geht um die Frauenbewegung in Algerien, indonesische Untergrundkunst, künstlerischen Protest gegen die marginalisierte Roma-Kultur, ein kunstpädagogisches Projekt in Kenia. Neben Installationen findet sich Malerei und Skulpturales, hoch ist der Anteil von Videoarbeiten, die neben Protestformen auch Performances dokumentieren. Es herrscht grundsätzlich Vielfalt. Interpretatorische Hinweise werden eher spärlich gegeben; sie würden von den Verantwortlichen wohl als hierarchisierende Vorgaben empfunden. Etwas mehr Orientierung hätte man aber durchaus bieten können, um nicht den Eindruck purer Beliebigkeiten entstehen zu lassen – Beliebigkeit der Auswahl und der Kunstzuschreibung. Oder sollte tatsächlich alles als Kunst gelten, was sich irgendwie kreativ politisch engagiert?
Stoff zur Auseinandersetzung findet sich reichlich. Irritation und Widerspruch gehören dazu und sind erwünscht. Einen Besuch wert ist das Mammutprojekt durchaus. Es ist wohl wirklich keine schlechte Idee, dabei der Empfehlung von Ruangrupa zu folgen und sich treiben und inspirieren zu lassen, statt einem strikten Zeitplan zu folgen. Personen aus dem Rhein-Neckar-Raum können sich bei vielem hier übrigens an die vergangene Fotobiennale erinnert fühlen. Nachhaltigkeit, Teilhabe und Umweltzerstörung waren auch dort immerzu präsent. In Teilen ist dies nun freilich leichter konsumierbar. Das Programm umfasst auch gastronomische Aspekte. Dazu zählen ein Biergarten und das Documenta-Bier einer benachbarten Brauerei, natürlich in Bio-Qualität.
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